Die Dessert-Welt ist mittlerweile schon etliche Jahre lang in Bewegung. Man hat sich an Vieles gewöhnt – vor allem auch an die „Crossover-Desserts“, also Desserts, die nicht mehr nur die klassischen Dessert-Produkte verwenden, sondern auch Elemente aus dem herzhaften Bereich. Es ist andererseits noch gar nicht so lange her, dass der bisher absolut unübertroffene Meister solcher Kreationen, Christian Hümbs, selbst in Zeitschriften wie dem „Feinschmecker“ Kritik für seinen Stil einstecken musste und sich eine Menge von Altmeistern diesseits und jenseits der Herde als eine Art von unbeweglichen Gourmet-Rentnern outeten, die immer nur das Gleiche wollen, und auf keinen Fall Desserts mit Kräutern oder Gemüse. Nun denn – das ist mittlerweile Geschichte, die Kreativität hat ihren Lauf genommen und den Dessert-Bereich erheblich aufgelockert.
Kay Baumgardt (37), der Autor dieses Buches, arbeitet in der Schweiz im „Gasthaus zur Fernsicht“ in Heiden als Chefpatissier. Was auf uns so gemächlich-bürgerlich klingt, ist de facto – typisch Schweiz – natürlich ein ziemlich luxuriöses Restaurant mit zwei Michelin-Sternen und auch ansonsten Allem, was der gut betuchte Schweizer Gourmet so braucht. Der AT-Verlag hat vermutlich die Auszeichnung Baumgardts als „Patissier des Jahres 2020“ in der Schweizer Ausgabe des Gault Millau zum Anlass genommen, ein Buch mit ihm zu realisieren. In der Werbung wie im Buch spielt man explizit mit den wohl immer noch als Grenzüberschreitungen interpretierten Arbeiten mit Crossover-Elementen.
Das Buch
Der Titel „Unplugged“ (üblicherweise im Zusammenhang mit Rockbands benutzt, die einen Auftritt mit akustischen Instrumenten an Stelle der verstärkten machen) signalisiert ein wenig Lockerheit, die sich im Verlauf des Buches zu Beginn und dann vor allem bei der Bezeichnung der Desserts wiederfindet. Es beginnt mit drei Statements, die ein wenig den Kurs abstecken: „Speck mit Schokolade? Aber sicher!“, „Wer hat Angst vor 3 ½ gr. Agar-Agar?“ und „Weg mit dem weißen Zucker!“, einem Plädoyer für den Verzicht auf raffinierten Industriezucker. In den drei kleinen Kapiteln erfährt man viel über den Ansatz von Baumgardt.
Im Rezeptteil fallen erst einmal ein paar Überschriften auf. Es gibt einen „Explodierenden Apfelkuchen“, der allerdings weniger explodiert aussieht, als etwa „Oops, I dropped the lemon-tarte“ von Massimo Bottura. Dann heißt es „Finger weg!“, „Think Pink!“ oder „Falscher Speck“, eine Komposition, die bei weitem nicht so kreativ ist, wie sie klingt, dafür aber eine unendliche Versammlung von Zutaten aus dem Bastelkasten der Patisserie darstellt. Warum man einen Kuchen „Auf die Streusel, fertig, los!“ nennen muss, wird nicht so ganz klar, weil es bei dem Rezept doch recht konventionell zugeht. Nach „Tortenschlacht“ (das Bild entspricht irgendwie nicht dem Titel) oder “Alles Baba?“ bekommt man dann bei der Lektüre langsam etwas schlechte Laune und fragt sich, ob die oft forcierten Titel denn auch mit den Rezepten korrespondieren. Das ist kaum jemals der Fall und schon gar nicht dann, wenn man als Maßstab für eine kreative Patisserie die Leistungen der spanischen Patissiers der letzten gut 15 Jahre zugrunde legt. Vor diesem Hintergrund wirkt die Arbeit eher bescheiden, irgendwie uninformiert, nicht richtig in der Welt stehend und leider dann eben auch ein wenig so, als ob man für Gäste, die solche Zusammenhänge nicht kennen, den großen Dessert-Zampano geben will.
Trotzdem ist Baumgardt natürlich ein guter Patissier, der sein Handwerk – zumindest im eher klassischen Fach – beherrscht und ab und zu auch recht befreit aufkochen kann – zum Beispiel bei „Omas Käsekuchen“, der auch nicht gerade wie Käsekuchen aussieht, aber die klassischen Elemente für eine schöne Variation und Dekonstruktion nutzt. Von solchen Desserts, die in einem begrenzten Rahmen schön mit traditionellen Ideen spielen, gibt es eine ganze Reihe, auch der Baba au Rhum, der vom Rum befreit und frischer gehalten wird.
Fazit
Baumgardt wird sicherlich in der Lage sein, ein eher traditionell orientiertes Gourmetpublikum angemessen zu unterhalten, sprich: ein paar Reize zu setzen, die so verpackt sind, dass sie noch tolerabel sind oder gar Spaß machen. Das Buch gibt sich allerdings weit moderner, als es eigentlich ist, wobei sich die Frage stellt, ob wirklich der Koch für diese Verkaufsstrategie verantwortlich ist oder man beim Verlag das Gefühl hatte, man müsse irgendwo und irgendwie „etwas mehr Gas geben“. Das merkt man, und das gefällt nicht wirklich.
Das Buch bekommt ein grünes B, eher wegen der handwerklichen Qualität als wegen eines besonders inspirierenden Inhalts.
Noch eine Anmerkung: Man sollte wissen, was es gibt und schon gegeben hat und das, was man neu auf den Markt bringen will, vorher entsprechend analysieren.
Fotos © AT Verlag/Adrian Ehrbar Photograph