Jan Hartwig: JAN. Labor der Liebe. Matthaes/Dorling Kindersley, München 2023. 256 S., geb., Ganzleinen, 78 Euro
Dies ist keine Buchkritik, sondern ein Text anläßlich der Veröffentlichung des Buches „JAN“ von Drei Sterne-Koch Jan Hartwig. Der Grund für meine Zurückhaltung ist, dass ich in diesem Buch nicht nur eine umfangreiche Einleitung geschrieben habe, sondern auch noch parallel zu Jan Hartwig Kommentare zu allen Rezepten, und auch das sehr systematisch und nicht nur mit einem Satz. Dennoch gibt es natürlich eine ganze Menge – vor allem zu den Hintergründen – zu sagen. Ich habe das in ein einigen Punkten zusammengefasst.
Zur Vorgeschichte
Ich kenne Jan Hartwig seitdem er in München den Posten des Küchenchefs im „Atelier“ übernommen hat, nachdem sich die Chefin des Bayerischen Hofs, Innegrit Volkhardt, entschlossen hatte, nicht nur „ein Sternerestaurant“, sondern ein wirkliches Gourmetrestaurant von Rang zu etablieren. Im Laufe der Jahre habe ich regelmäßig dort Gerichte gegessen, und das oft in einem sehr umfangreichen Rahmen. Für meine Texte im „JAN“ habe ich also insofern gute Voraussetzungen, als ich einen Großteil der Rezepte kenne. Es ist übrigens durchaus nicht so, dass ich von Anfang an von den Gerichten völlig begeistert war. Das erste Essen im „Atelier“ war bei Hartwig aus einer Sicht noch von viel Unsicherheit geprägt und im übrigen – wie ich später erfahren habe – auch noch davon, dass Hartwig nicht nur Küchenchef des „Ateliers“ war, sondern Unmengen von anderen Dingen in diesem großen Hotel mit seinen vielen Veranstaltungen zubereiten musste.
Wie dem auch sei: ich hatte bei diesem ersten Essen eigentlich zu jedem Teller eine Reihe von Anmerkungen, aber eben – und das war ganz entscheidend – das Gefühl, das hier ein Koch am Werk ist, der ungeheuer talentiert und zielstrebig an die Arbeit geht, dass hier ein Koch auf seinem ersten Posten als Küchenchef kocht, der einmal zu den ganz Großen seiner Zunft gehören würde. Wir haben dann im Laufe der Zeit nach jedem Essen auch viel und detailliert über die Gerichte gesprochen – auch in der Zeit von Patissier Christian Hümbs – und gleichermaßen detailliert auch zu Zeiten, wo die Anerkennung mit zwei oder drei Sternen schon da war. Es schien Hartwig genauso wie mir völlig klar zu sein, dass es hier um die Kochkunst als solche und nicht nur um Bewertungen geht, um den Stil der Küche, um Produkte, um Regionalität usw. usf. Was er dazu sagte, war immer profund und gleichzeitig down-to-earth. Auch das zeigte frühzeitig, dass es hier sehr weit gehen kann.
Es gab übrigens auch spezielle Aha-Effekte – zum Beispiel einen, der auch im Buch an verschiedenen Stellen vertreten ist. Es wurde klar, dass Hartwig der Meinung ist, dass auch klassische Rezepturen, die man immer nur auswendig gelernt, aber nie kritisch befragt hat, verbessert – oder, genauer formuliert – optimiert werden können. Schmoren ist eben nicht gleich Schmoren (siehe Bild). Und so ergab sich langsam aber sicher ein Bild von der Zukunft dieser Küche, die nun in diesem Buch erstmals dokumentiert ist.
Jan Hartwigs Küche: noch ein paar zusätzliche Worte
In den letzten ist immer deutlicher geworden, dass die Zukunft der Küche nicht nur etwas mit Avantgardisten zu tun hat, die irgendein neues Detail „erfinden“ und dann von den typischen medialen Verteilungssystemen profitieren: es ist eben für viele Journalisten-Kollegen immer leicht, über irgendeinen Gag zu berichten…Im Moment wird immer klarer, dass die Zukunft der Küche nicht nur primär kulinarische, sondern auch wichtige gastronomische Aspekte haben muss, wobei ich unter „gastronomischen Aspekten“ auch und besonders die Rezeption im engeren Sinne einbeziehe. Es zeigt sich deutlich, dass eine überragende Küche ein überragendes Handwerk auf klassischer Basis braucht, dann viel Freiheit im Denken, um sich alle möglichen Ressourcen nutzbar zu machen, und dann vor allem den Einbezug des assoziativen Kontextes, also dessen, was sich beim Esser tut, wenn er isst. Man könnte auch sagen, dass der überragende Koch 2023/2024 „state-of-the-art“ sein muss, was aber nun – siehe oben – sehr viel umfassender definiert werden muss, als das bisher und jemals der Fall war.
Und da kommt Jan Hartwig ins Spiel. Das Buch und vor allem auch die Dokumentation im „Geschmacksarchiv“ des Deutschen Archivs der Kulinarik in Dresden zeigen einen Koch, der ungewöhnlich offen klar macht, dass er das ganze Spektrum der Kochkunst einsetzen will und kann und dabei in der Lage ist, ein enormes Wissen einzusetzen. Wer das Buch liest, wird das sofort feststellen, wer die Dokumentation dazu studiert, wird nur noch staunen können.
Die Entstehung des ausgeweiteten Konzeptes
Ursprünglich sollte ich für dieses Buch nur ein ausführliches Vorwort über Jan Hartwig schreiben. Dann aber gab es noch weitere Gespräche mit Hartwig, weil er nicht nur eine Ansammlung von Rezepten, sondern einen zusätzlichen Mehrwert im Buch haben wollte. Ich hatte dann vorgeschlagen, dass ein Kommentar von ihm zu jedem Rezept interessant wäre, weil mir in fast allen Kochbüchern genau diese Dinge fehlen. Hartwig drehte dann den Spieß sozusagen um und wünschte sich auch von mir Kommentare zu den Gerichten. Ich habe dann nur kurz gecheckt, was ich schon alles an Gerichten – im „Atelier“ und im „JAN“ gegessen habe und habe zugestimmt.
Das nächste Problem war der Zeitplan. Hartwig sah sich aus Zeitgründen außerstande, die Texte ganz praktisch selber zu schreiben. Wir kamen dann auf die Lösung, dass wir immer wieder einmal eine Stunde telefonieren, alles aufzeichnen, ich seinen Kommentar zusammenstelle und ihm dann zum Check und zur Freigabe schicke. Im Prinzip haben wir das dann in etlichen Telefonaten auch so erledigt. – Was wir nicht berücksichtigt hatten, war, dass die Gespräche in kürzester Zeit eine enorme Intensität und Präzision im Detail annahmen und – das kann man sicherlich so sagen – auch einfach Spaß machten. Es ging von Anfang an nicht um die üblichen Geschichten, sondern um kulinarische und konzeptionelle Details, von denen man noch nie etwas gehört hat. Ich habe dazu ausführlich zu allen 76 Rezepten jeweils eine ganze Reihe von Fragen vorbereitet. Es ging – um es einmal ganz einfach zusagen – nicht nur darum, welchen Reis er zum Beispiel einsetzt, sondern auch noch darum, warum er dies tut und wie er zu diesem Produkt gefunden hat. Irgendwann gab es dann sogar Informationen zum Beispiel über den Philadelphia-Frischkäse, dessen Einsatz in einer solchen Küche mich erst einmal etwas überraschte. Mittlerweile habe ich selber Emulsionen mit diesem Frischkäse gemacht und weiß dessen Eigenschaften, dessen ganz spezielle Cremigkeit und aromatische Funktion sehr zu schätzen.
Die Substanz der Gespräche mit Jan Hartwig und die Idee einer kompletten Dokumentation zusätzlich und ergänzend zum Buch. Die enorme Intensität, Lockerheit und Offenheit der Gespräche ergaben ein Vielfaches des Materials, das wir für das Buch benötigten. Mir schien das so einmalig und für viele fachkundige Leser höchst interessant, dass ich Hartwig gefragt habe, ob er die gesamten Gespräche zur Veröffentlichung im „Geschmacksarchiv“ am „Deutschen Archiv der Kulinarik“ in Dresden freigeben könne. Er stimmte sofort zu und ich habe dann in einer recht umfangreichen Arbeit unsere Gespräche in eine druckfähige Form gebracht. Sie sind nun unter
https://doi.org/10.25366/2023.228
abzurufen. Es ist die Dokumentation Nr. 5/2023. Zusammen mit dem Buch ergibt sich eine bisher wohl nie dagewesene, detaillierte Darstellung der Hintergründe und Beweggründe der Arbeit eines aktuellen Drei Sterne-Kochs. Hartwig wird dabei in verschiedenen Bereichen sehr persönlich und offen. Er erzählt von den Einflüssen seiner Kindheit und Jugend in der Familie ebenso wie über seine – übrigens immer sehr selbstkritische – Arbeitsweise, über Ziele und kulinarische Details der allerpräzisesten Art. Dabei profitiert das Gespräch – wenn ich das einmal so sagen darf – sicherlich auch davon, dass ich persönlich ganz ähnlich denke und arbeite, und insofern auch von meiner Seite aus genau die Bälle spielen konnte, die Hartwig zur Höchstform auflaufen ließen. Die Gespräche waren auch für mich ein reines Vergnügen und haben auch mir neue Aspekte in der Arbeit eines absoluten Spitzenkochs gezeigt, die mir bis dahin nicht so präzise bekannt waren. Vor allem aber stellte sich der Eindruck ein, dass Jan Hartwig weiter nach vorne gehen wird und wir noch Unmengen von hervorragenden Dingen von ihm erwarten dürfen.
Das ist in der Tat ein sehr informatives und erhellendes Dokument, das klar den Fokus und die Entwicklung von Jan Hartwig – dessen Küche ich sehr schätze – zeigt. Mich beeindruckt seine Entwicklung zu einer reduzierteren Küche mit einem klaren Fokus auf die Klassik.
Das steht leider im Gegensatz zum Kochbuch, dessen Inhalte (exklusive der Rezepte) sich ja größtenteils mit dem (extensiveren) Dokument decken. Allerdings wird die Struktur im Buch per se durch die Rezepte aufgebrochen, wodurch sich strukturell schon eine gewisse Schwierigkeit ergibt. Wären die Kommentare von Jan Hartwig im Anschluss an die Rezepte noch an der richtigen Stelle – das wird ja oft so in Kochbüchern gehandhabt – so wirken die Dollase-Kommentare oft völlig aus dem Kontext gerissen – es fehlt der Faden, der im Dokument durch die Vollständigkeit der Diskussion (im Buch musste der Text verständlicherweise aus Platzgründen zT deutlich gekürzt werden) viel präsenter ist. Es gibt zwar einen gewissen Kontext zu den Zitaten von Jan Hartwig, insgesamt fehlt jedoch die Kohärenz. Das wirkt dann zum Teil so, wie wenn eine zweite Person unbedingt ihr Wissen an den Mann bringen wollte. Das ist etwas schade, tut der Qualität des Buches jedoch keinen Abbruch.
Lieber Gerhard,
vielen Dank für die Zuschrift. Sie liest sich für mich etwas – sagen wir: bizarr, was aber nicht an Ihnen liegt. Tatsächlich habe ich im Buch jeweils beide Texte geschrieben (und berichte ja hier auch darüber). Dabei habe ich darauf geachtet, dass sich möglichst keine Doppelungen im Buch und zwischen den Kommentaren von Jan Hartwig und mir ergeben. Vorab hatte immer der Text von Jan Hartwig, meinen habe ich dann so gehalten, dass es keine Kollisionen oder Doppelungen gibt. Dazu gibt es dann bisweilen auch etwas „assoziative“ Texte, die in erster Linie ein schönes Paket von Informationen bringen sollen. Die Texte aus dem Geschmacksarchiv sind in eine Mix entstanden. Ich hatte jeweils einige Fragen vorbereitet, die das Gerüst für das Gespräch brachten. Zusätzlich habe ich natürlich immer auf die Antworten von Jan Hartwig reagiert. Wir finden beide dieses Gespräch (das man sogar noch mehr in die Tiefe/die Details treiben könnte) sehr gut und aufschlußreich.So denken wir, so reden wir.
Gruß JD
Alles klar. Ich möchte nochmals betonen, dass die Dokumentation unheimlich gut & gelungen ist. Um ihren Einwand nochmals genauer zu beurteilen, müsste ich wirklich die beiden Texte nochmals nebeneinander bzw nacheinander gegenlesen. Wie gesagt, es liegt natürlich auch in der Natur der Sache, dass der umfangreiche Text aus der Dokumentation aus Platzgründen nicht 1:1 in ein Kochbuch übernommen werden kann. Dafür hätte sich aber fast eine Beilage à la Rene Redzepi’s „A work in progress“ angeboten, das ja genau nach diesem Prinzip vorgeht (Kochbuch und separat in einem Büchlein das Journal von Rene Redzepi). Aber wie gesagt, unter dem Strich, sehr gut gelungen und sehr aufschlussreich.
… beiden Interviewpartnern ein herzliches Dankeschön für die großartige/großzügige „Rohware“ der dichten 53 Seiten! Ein nobles Geschenk, ein Satz für Satz zu lesendes lebendiges Dokument, das zum Verständnis der Teller nicht nur von Jan Hartwig beiträgt. Und eben nicht nur zum Verständnis, sondern das den Genuss noch erheblich erweitert sowie verdeutlicht.
Gruß: Nils
.. eine wirklich interessante und informative Dokumentation; gerade auch, weil es so der Nachwelt erhalten bleibt!