Jürgen Dollase: Herr Michel, gab es bei Ihnen zu Hause gutes Essen?
Torsten Michel: Ja, und das von beiden Seiten, also die Mama und die Oma.
JD: Das war noch zu DDR-Zeiten.
TM: Ich bin in einem Vorort von Dresden aufgewachsen. Da gab es noch viel Landwirtschaft nebenbei. Man alles angebaut, was möglich war; Lauchzwiebeln, Radieschen, Gemüse, es gab ein Gewächshaus für die Tomaten.
JD: Hatte das noch etwas damit zu tun, dass man mit Eigenversorgung etwaigen Versorgungsengpässen gegensteuern konnte?
TM: Es ist sehr viel eingemacht worden. Alles war auch als Vorrat gedacht und man hat z.B. auch die Kartoffeln in größeren Mengen eingelagert. Aber eine Notlage war das eigentlich nicht. Die Speisekammer, die man dann hatte, war schon sehr gut gefüllt.
JD: Ich habe nach Ende der DDR überall DDR-Kochbücher gekauft. Da gab es viele nicht so gute bürgerliche Rezepte, allerlei Einfluss aus der Sowjetunion oder anderen Ostblockstaaten, aber immer wieder auch Spuren von klassischer Küche.
TM: Die Spuren waren ganz klar da. Wenn die Oma die Täubchen gemacht hat, hat sie sie morgens angebraten, dann in den Ofen geschoben, die Hitze reduziert und ist dann aufs Feld zur Arbeit gegangen. Mittags waren die Täubchen zwar durch, aber noch saftig und mit einer wunderbaren Aromatik.
JD: Wollten Sie damals schon etwas mit Küche zu tun haben?
TM: Nein, das entstand dann später relativ kurzfristig. Ich hatte mich in meiner Jugend ganz auf den Beruf des Piloten fixiert und wollte zur Luftwaffe. Gut – im Nachhinein wäre jetzt bei mir mit 41 Jahren die fliegerische Karriere in einem Strahlflugzeug wegen der Altersbegrenzung schon zu Ende. Aber ich hatte damals mein ganzes Leben darauf ausgerichtet, Sport gemacht und sogar tagespolitische Themen verfolgt – eben all das gemacht, was man für die Offiziersprüfungen gebraucht hat. Aber – dann war ich in Köln und habe einen dreitägigen Test absolviert und da hat man dann eine kleine Verschiebung in der Farbwahrnehmung festgestellt und das war’s dann. Und dann stand ich da, kam im Juli nach Hause und im August musste man eine Lehre anfangen. Irgendwie habe ich dann – eher zufällig – eine Kochlehre begonnen und hatte in Dresden im Westin-Hotel einen guten Ausbildungsbetrieb mit einem sehr guten Küchenchef und guten und erfahren Chefs de Partie. Es war ein glücklicher Zufall.
JD: Wann kam dann die Idee bei Ihnen, dass es auch Spitzenküche gibt und dass das ein lohnenswertes Ziel ist?
TM: Das war schon am Ende des ersten Lehrjahres so. Ich habe das Kochbuch von Harald Wohlfahrt „Feines aus meiner Küche“ bekommen. Und da habe ich mir gesagt: Irgendwann will ich in dieses Restaurant.
JD: Hatte man damals in Dresden vielleicht noch die Idee, dass die richtig gute Küche nur im Westen stattfindet?
TM: Nein. Es ist eher so, dass die sächsische Jugend ganz allgemein gerne nach Süddeutschland ging, um dort in guten Betrieben zu lernen und weiterzukommen. Die Reiselust und die Bereitschaft zur Mobilität waren recht groß.
JD: Und nach der Ausbildung?
TM: Ging ich in Dresden zu Herrn Kutzner und Stefan Herrmann.
JD: Wie lange sind sie dort geblieben?
TM: Dreieinhalb Jahre.
JD: Und dann?
TM: Bin ich in die „Schwarzwaldstube“.
JD: Sie hatten also quasi von vornherein vor, in die Brigade des für viele Leute besten und professionellsten deutschen Restaurants einzutreten. Hat man Sie denn ohne weiteres genommen?
TM: Ich war im Februar 2003 vier Wochen in der Schwarzwaldstube zu einem Praktikum. Man musste ja auch ausloten, ob das Sinn macht. Man geht ja nicht einfach von Dresden weg und macht sich keine Gedanken…
JD: Harald Wohlfahrt war ja damals auch noch quasi unumstritten die Nummer eins unter den deutschen Köchen. Er hatte sich von seinen klassischen Begleitern abgesetzt und die Konkurrenz war noch nicht so weit. – Die Küche der Schwarzwaldstube war ja damals auch noch etwas knapper besetzt. Auf welchem Posten haben Sie begonnen?
TM: Gardemanger. Ich habe das drei Jahre gemacht, dann drei Jahre Poissonnier und drei Jahre Saucier, also alles, was man machen muss.
JD: Haben Sie direkt als Postenchef begonnen?
TM: Nein, erst als Demi-Chef. Das ist normal. Man fängt auf der zweiten Stelle an. Ein halbes Jahr später bin ich dann Chef de Partie geworden.
JD: Sie haben dann auch diese sensorisch revolutionären Vierer-Amuse-Bouche-Sets gemacht?
TM: Ja, unter anderem. Zwischendurch bin ich dann auch noch Sous-Chef geworden.
JD: Wann wurde klar, dass Sie als Nachfolger von Harald Wohlfahrt in Frage kamen?
TM: Das war schon im September 2005. Ich wollte mit dem Chef darüber reden, dass ich mich beruflich neu orientieren wollte, und da kam von ihm das Angebot, dass er mit 60 aufhören wolle und dass ich sein Nachfolger werden könnte.
JD: Das ging dann aber schnell. Sie müssen viel Talent gehabt haben. – Apropos „Beruflich neu orientieren“: Wollten Sie sich selbständig machen oder irgendwo Küchenchef werden?
TM: Nein, ich wollte nach Paris, zu Ducasse. Und da meinte Harald Wohlfahrt, ich könnte die gleiche Entwicklung nehmen, wenn ich in der Schwarzwaldstube bleibe. Hier könnte ich alle Posten durchkochen. Da denkt man als junger Mann natürlich nach, was bedeutet das zeitlich, was hat das für Konsequenzen. Ich habe mich dann dafür entschieden, hier zu bleiben.
JD: Gab es dann spezielle Regelungen zur Nachfolge, auch schriftlich vielleicht?
TM: Da habe ich mich ganz auf die Worte von Herrn Wohlfahrt verlassen. Mit 60 wollte er sich zurückziehen. Dann wäre ich 38 gewesen, ein gutes Alter. Dann hat es sich verzögert, aber da bin ich eigentlich noch nicht ungeduldig geworden. Ich habe die Zeit genutzt. Man muss sich als junger Koch einerseits entwickeln können, andererseits braucht man natürlich auch einen Küchenchef, der bereit ist, etwas von sich abzugeben und diesen Prozess in der täglichen Arbeit unterstützt.
JD: Lassen Sie uns auf die tägliche Arbeit noch einmal genauer eingehen. Wie haben Sie Wohlfahrt zu Beginn erlebt – mit dem Bild vor Augen, das Sie aus seinem Kochbuch hatten?
TM: Wie man es eigentlich erwartet hat. Er ist ein zielgerichteter Küchenchef, der Qualitätsbewusstsein hat und dieses Bewusstsein auch transportiert, der auch von seinen Mitarbeitern ständig beste Qualität verlangt. Er war jeden Tag in der Küche, immer präsent.
JD: Hat er viel korrigiert?
(Michel überlegt..)
JD: Hatten Sie das Gefühl, unter Dauerüberwachung zu stehen?
TM: Nein, nein, er hat ein gutes Händchen, Mitarbeiter zu führen. Er hat sich vor allem die entscheidenden Momente herausgesucht, wenn zum Beispiel ein Krustentierfond gemacht wurde und darauf geachtet, wie er angesetzt wurde. Er war kein Kontrollfreak, aber er wusste schon genau, wo sich Situationen so hätten zuspitzen können, dass es für uns nachteilig ist.
JD: Hat Sie hier etwas mit den Erfahrungen aus Dresden besonders beeindruckt? War etwas vollkommen anders?
TM: Na ja, das Geschäft. Wir hatten mittags und abends das Restaurant voll, das ist etwas ganz anderes. In Dresden waren wir am Wochenende abends voll aber nicht in der Woche. Hier kam man am Mittwochmorgen zur Arbeit und hatte mittags schon 30 Gäste. Das ist schon ein Unterschied. Und dann natürlich die Produktvielfalt mit dieser opulenten Karte. Es war immer alles da, was die Saison zur Verfügung stellt.
JD: A la carte gab es in der Schwarzwaldstube immer eine der größten Karten in Deutschland. – Wie fanden Sie die Produktqualität?
TM: Hier kämpft jeder Posten um ein Maximum an Produktqualität, der Entremetier um seine Kartoffeln, genau so wie der Saucier um seine Gänseleber. Ein Beispiel: als ich hier ankam, hatte ich überhaupt keine Ahnung von Kaviar. Klar, ein paar Grundbegriffe hatte ich schon, aber dass man dann Degustationen machte von verschiedenen Sorten und verschiedenen Stör-Arten, jedes Jahr eine andere Ernte unterschied, das war schon eine völlig neue Welt.
JD: Waren Sie zufrieden mit Allem oder hatten Sie die Idee, dass man Irgendetwas auch noch präziser und härter angehen müsste – etwa bei den Produkten? – Ich persönlich lag mit Harald Wohlfahrt immer ein klein wenig mit dem Fisch über Kreuz. Er sagte immer, dass sein Lieferant bestes Material liefert und man damit sehr gut arbeiten könne. Ich kam dann immer aus Paris oder sonst wo in Frankreich zurück und hatte Fischqualitäten vorgefunden, die ich in Deutschland einfach nie bekommen habe. Das gilt auch für andere Produkte bei manchen französischen Spitzenköchen, bei denen man einfach den Eindruck gewinnen muss, dass sie nie auf den Markt kommen, sondern immer direkt zu ihnen gehen.
TM: Man geht da schon sehr konsequent an die Arbeit und darf auch einmal einen Fisch mehr bestellen, um Optimales zu bekommen. Es hat sich auch schon wieder viel geändert. In der letzten Woche waren fast alle unsere Fische nach Ikejime-Art getötet, das war schon sensationell. Da wird man dann von der Qualität her neu eingenordet.
JD: Da müsste man ja eigentlich mit den Garungen runter gehen und wieder roher werden…
TM: Andererseits habe ich gestern einen Wolfsbarsch zurückgeschickt, der äußerlich absolut frisch und gut aussah, aber dann bei der Garprobe ein furchtbar weiches Fleisch hatte. Wir haben dann aber noch einen neuen nachgeliefert bekommen.
JD: Sie sind ja schon recht lange hier in Baiersbronn. Wie intensiv konnten Sie sich denn mit anderen Küchen beschäftigen? Weil Sie nicht viele Stationen hatten, ist das doch sicher sehr wichtig. Haben Sie sich gekümmert, oder gab es auch von der Firma her Aktionen?
TM: Wir haben unsere Ausflüge gemacht und sind immer wieder bei Kollegen gewesen. Ich war zum Beispiel auch schon vier Wochen im Noma, vier Wochen im Fat Duck bei Heston Blumenthal und vier Wochen in der Arnsbourg, damals noch bei Jean-Georges Klein.
JD: Wie hat es Ihnen im Noma gefallen? Wann war das?
TM: Das war zu dem Zeitpunkt, wo sie zum ersten Mal Nummer 1 in der Liste der „The World’s 50 Best Restaurants“ waren. Da war es noch nicht ganz so groß mit der Küche wie es heute der Fall ist. Die hatten mittags und abends je 40 Couverts und sehr viel zu tun.
JD: Was haben Sie dort gemacht?
TM: Alles. Auch Kräuter zupfen und diese Riesenmengen Mis en place vorbereitet.
JD: Genau. Es gibt ja diese Bilder, wo selbst während des Service und danach ganz Pulks von Köchen Blüten zupfen oder Pflanzen vorbereiten – egal, welche Funktion der einzelne Mitarbeiter hat.
TM: Das waren bestimmt zwei Drittel der Leute.
JD: Ich frage deshalb nach den Reisen, weil die Generation von Wohlfahrt oder z.B. Heinz Winkler in ihrer Ausbildungsphase, aber auch noch später jeden Pfennig für Reisen zu Kollegen ausgegeben hat und manchmal lieber auf das Hotel als auf einen Restaurantbesuch verzichtet hat. Gab es hier ein Programm dazu?
TM: Ja. Das was man in zwei Tagen – also Montag und Dienstag – erreichen kann, haben wir versucht. Hotspots wie Tokio und Japan stehen bei mir natürlich immer noch auf der Liste. Ich bin auch direkt mit Harald Wohlfahrt unterwegs gewesen. Zum Beispiel mit dem TGV Richtung Monaco oder nach Marseille zu Passedat.
JD: Ganz nebenbei: Wie hat es Ihnen bei Passedat im Le Petit Nice gefallen?
TM: Sehr gut. Er ist einer der besten Köche für Fisch.
JD: Die Vielfalt von Fischsorten und ihr teilweise völlig andersartiger Geschmack haben mich dort sehr beeindruckt.
Gehen wir einmal zu Ihrem eigenen Konzept. Wie sehen Sie Ihre Rolle jetzt hier in der Schwarzwaldstube?
TM: Von der Geschäftsleitung her wird uns der Rücken freigehalten. Wir haben natürlich den Anspruch, am Jahresende wirtschaftlich gearbeitet zu haben. Aber es wurde uns von der Familie signalisiert, dass ein minimales Abweichen kein grundsätzliches Problem ist. Wenn es für die Gäste gut ist, ist das erst einmal das Wichtigste.
Wir sind natürlich hier in Tonbach kein großstädtischer Hotspot, sondern müssen erst einmal die Erwartungen erfüllen, die die Gäste mit der „Schwarzwaldstube“ verbinden. Andererseits muss man natürlich zeitgemäß bleiben, man muss zum Beispiel dafür sorgen, dass die Küche schlank ist.
JD: Wie sieht es mit Ihren Gästen aus? Sind es Gourmets oder Leute, die einfach in das beste Restaurant gehen wollen?
TM: Unsere Gäste sind schon sehr erfahren. Wir verkaufen am häufigsten das große Degustationsmenü und die Leute bestellen auch Raritäten, Seeigel, Wildhase königlicher Art, das Interesse ist einfach da.
JD: Sie haben in der langen Zeit, in der Sie schon hier sind, ja sicherlich den Stil von Harald Wohlfahrt verinnerlicht. Er hat zum Beispiel viel mit den Saucen zu tun, viel mit dem Satz von Wohlfahrt, dass es ohne gute Fonds keine gute Küche gibt. Ist das nach wie vor das Wichtigste?
TM: Das Wichtigste würde ich jetzt nicht so explizit sagen, es geht auch viel um die Produktqualität.
JD: Bleiben Sie insofern klassisch, dass Sie sagen: Eine ausgefeilte, hervorragende Sauce gehört nach wie vor zu den Bestandteilen einer hervorragenden Küche?
TM: Ja, auf jeden Fall.
JD: Es gibt ja auch Köche, die das nicht mehr so sehen… Mir hat Herr Gass gestern gesagt, dass ein „Lièvre à la royale“, den ich vor Jahren einmal hier gegessen habe, auch damals schon von Ihnen und nicht von Harald Wohlfahrt zubereitet war, und dass Sie überhaupt diese klassischen Zubereitungen sehr gut beherrschen und sehr an ihnen interessiert sind. Ist das auch heute noch so?
TM: Ja, selbstverständlich. Das sind die Wurzeln von unserer Küche, was aber nicht bedeutet, dass der Löffel in der Rouennaiser Sauce stehen bleiben muss. Wir haben heute modernere Garverfahren und eine bessere Kontrolle der Prozesse, wir können das weiter präzisieren.
JD: War das „Lamm à la royale“ gestern eine Ihrer Interpretationen von Klassik?
TM: Ja, es entstand aus der Überlegung heraus, wie man regionale Produkte noch besser einbinden kann, wie man authentischer werden kann, wie man alle Produkte eines Gerichtes auch von der schwäbischen Alb beziehen und verarbeiten kann.
JD: Ich frage deshalb, weil Sie einer der wenigen Köche in Deutschland sind, die solche Gerichte auf der Karte haben und vor allem ihre Zubereitung wirklich beherrschen. Das Lamm hatte einen hervorragenden Geschmack. Was interessiert Sie kulinarisch im Moment am meisten?
TM: (denkt lange nach…) Eigentlich alles, was gut ist. Wir waren jetzt in Paris zum Essen und in den zwei Restaurants sind mir vor allem die vegetarischen Gerichte aufgefallen. Wir waren bei Piège im „Le Grand Restaurant“und bei Alléno im „Ledoyen“, und bei Alléno habe ich einen Spinat gegessen, der hängt mir heute noch nach, da werde ich mich mit beschäftigen.
JD: Lieber Herr Michel, ich danke für das Interview und wünsche Ihnen für die Zukunft alle Gute und viel Freude an der Entwicklung auch ihrer eigenen Ideen.