Vorgeschichte
Vor einigen Jahren war ich einmal im „El Bulli Taller“, der sagenumwobenen Kreativwerkstatt von Ferran Adrià mitten in der Altstadt von Barcelona. Es ging um einen Film für ZDF „Aspekte“. Natürlich stand Ferran im Mittelpunkt, er war der Weltstar, der mir ganz nebenbei einmal seine Sammlung von Zeitschriften zeigte, auf deren Titelbild er schon einmal erschienen war, darunter quasi alle der bekanntesten Publikationen der Welt. Mir fiel bei diesem Besuch nur am Rande auf, dass auf einer Art Empore mit sehr niedriger Decke auch das Büro von Albert Adrià war – auf wenig Raum und sehr voll. Er saß an diesem Tag dort, als ob ihn die ganze Sache wenig interessierte. Und dennoch hatte ich den Eindruck, als ob hier irgendetwas vor sich ging, das man als Außenstehender nicht so richtig überblickte…
Hier nun ein Interview, das ich anlässlich der „Chefsache 2016“ mit ihm geführt habe. Es erklärt eine Menge und hat viele Überraschungen.
Das erwähnte Restaurant „Enigma“ hat soeben eröffnet. Es schließt den Reigen von sechs Restaurants mit ganz unterschiedlichen Küchenstilen zwischen Tradition und Avantgarde (Tickets, Bodega 1900, Hoja Santa, Nino viejo, Pakta, Enigma).
JD: Ihre Freunde in Deutschland fragen sich, wie Sie vom weltbesten Patissier zu einem hochinteressanten, modernen Koch geworden sind.
AA: Ich gehöre zu der Generation von Köchen, die eigentlich keinen großen Unterschied zwischen moderner Patisserie und den Kreationen für die herzhaften Küche sehen. Außerdem habe ich mich immer vor allem als Koch verstanden. Zu Beginn meiner Laufbahn habe ich im „El Bulli“ verschiedenen Abteilungen der Küche kennengelernt und mich dabei durchaus auch in anderen Abteilungen wohl gefühlt.
JD: Welchen Einfluss hatten Sie auf die anderen Gerichte im „El Bulli“? Ich habe Sie einmal in ihrer Kreativwerkstatt („El Bulli Taller“ in Barcelona) erlebt und hatte ein wenig den Eindruck eines „Master Minds“. Hatten Sie also mehr Einfluss auf die Arbeit des weltberühmten „El Bulli“-Restaurants als alle Leute gedacht haben?
AA: Sagen wir es so: Ferran ist immer so etwas wie das Aushängeschild des „El Bulli“-Projektes gewesen. Wir haben das genau überlegt und beschlossen, dass Ferran die Person ist, die das Ganze nach außen vertritt. Er war dafür einfach am besten geeignet. Dahinter steckte und steckt eigentlich Teamwork. Dazu kommt dann auch noch, dass ich mich mit den Medien nicht so besonders wohl fühle. Ich war zwar insgesamt schon 23 Jahre in der Patisserie, aber die letzten zehn Jahre im „El Bulli“ habe ich mich auch intensiv mit anderen Gerichten befaßt. Ich konnte zum Beispiel dafür sorgen, dass viele der neuen Techniken (Anm. also das, was man normalerweise – sehr verkürzend – Molekularküche genannt hat) auch im herzhaften Bereich Verwendung gefunden haben.
Mit den Rezepten, die Sie in Ihrem Buch „Natura“ veröffentlicht haben, sind Sie zu einem der einflussreichsten und am meisten kopierten Patissiers der Welt geworden. Erleben wir nun das Ende einer Ära? Das Ende des Patissiers Albert Adria?
„Natura“ war für mich eine sehr wichtige Sache, so etwas wie mein Vermächtnis an die Patisserie. Ich habe fünf Jahre daran gearbeitet, von 2003 bis 2008, und ich habe wirklich sehr viel über all die Dinge nachgedacht. „El Bulli“ war ein wichtiger Teil meines Lebens, aber nun sehe ich die Dinge aus ganz anderen Perspektiven. Ich mache weiter Desserts, aber sie sind nur noch ein Teilaspekt.
„Natura“ war in den Aromen eigentlich eher klassisch, aber die Formen waren völlig anders. Was halten Sie von den neuen Desserts, bei denen sehr viel mit Elementen aus dem herzhaften Bereich gearbeitet wird?
Das ist für mich nicht so ganz neu. Wir haben das vielleicht bei „El Bulli“ nicht besonders konsequent gemacht, aber es gab schon eine Reihe von Arbeiten mit Kräutern und Käse zum Beispiel. Ich gehe im Moment in eine Richtung, die ich neo-klassisch nennen möchte. Ich habe zum Beispiel eine Kombination mit Orange, Rote Bete und Yuzu, die ich aber in eigentlich klassischen Zusammenhängen einsetze.
Sind diese „Crossover-Desserts“ für Sie eine interessante Entwicklung?
Wir haben im „El Bulli“ die Grenzen nicht so eng gezogen, gegen Ende des Menüs war das meist fließend und man konnte nicht sagen: bin ich nun noch im herzhaften Bereich oder schon bei den Desserts, Aber heute, im „Tickets“ zum Beispiel, kochen wir einfach in einer anderen Art und Weise, bei der solche Trennungen kaum noch eine Rolle spielen. Man hat als „bester Koch der Welt“ oder in einer so einflussreichen Rolle die Möglichkeit, die Gastronomie zu verändern. Das haben wir gemerkt, und das ist das, was uns heute interessiert.
Genau das ist meine Frage: Nach der kulinarischen Revolution scheinen Sie nun so etwas wie eine gastronomische Revolution anzustreben. Sie ändern die Art, wie man isst, sie ändern das Preisgefüge, Sie öffnen sich Inspirationen aus anderen Künsten und entfernen sich insgesamt vom Gourmetrestaurant klassischer Prägung. Was ist der Grund dafür? Wollen Sie lauter kleine „El Bullis“ machen?
Erst einmal möchte ich die Leute mit dem, was ich tue, glücklich machen. Ich denke heute global, und das Konzept unserer Restaurants geht in diese Richtung. Es wird aber erst abgeschlossen sein, wenn das „Enigma“ eröffnet ist. Dann werden wir hier in Barcelona einen Ort haben, wie nirgendwo sonst auf der Welt, mit ganz unterschiedlichen Restaurants für ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Erlebnisse auf engstem Raum. Ein Grund für diese Entwicklung war aber auch, daß wir in Spanien immer noch eine Wirtschaftskrise haben und für teure Gourmetrestaurants einfach kein Bedarf vorhanden ist. Das „Tickets“ wird vielleicht in der Zukunft einmal für den Platz stehen, wo man „Fine Dining“ demokratisiert und für jeden Geldbeutel zugänglich gemacht hat.
In anderen Ländern haben die Spitzenköche sehr viel Probleme mit solchen Entwicklungen, mit Konzepten für jüngere Gäste, für andere Gäste als den klassischen Gourmet
Unsere Küche war immer so, dass man sich in verschiedene Richtungen bewegen kann, nicht nur zu einem teuren Gourmetrestaurant, sondern auch zu Restaurants mit kleinen Gerichten und flexiblen Konzepten.
Das „Enigma“ sollte ein völlig anderes Restaurant werden. Was machen Sie dort? Ist es multimedial gedacht?
Nein, nicht wirklich. Es gibt keine Computer oder so etwas, im Gegenteil. Der Focus liegt vor allem auf der kulinarischen Erfahrung. Man betritt das Restaurant und durchläuft erst einmal eine ganze Reihe von Stationen, bis man an seinem Platz ist. Man bekommt schon am Eingang einen Tee mit drei Kleinigkeiten – zusammen mit einer Erklärung des Konzeptes von „Enigma“.
Ist das „Enigma“ so etwas wie ein „El Bulli“ – Nachfolger?
Nein, nicht wirklich. Es wäre nach dem Ende von „El Bulli“ leicht gewesen, ein ähnliches Restaurant in Barcelona zu machen. Ich wollte aber erst die Erfahrungen mit unseren anderen Konzepten machen und erst dann wieder ein dem „El Bulli“ vergleichbar hochklassiges Konzept angehen. Andererseits ist es auch etwas, das ich einfach machen musste – ein Konzept, das wirklich ich bin, mit allen Erfahrungen von 23 Jahren in der Gastronomie.
Werden Sie eines Tages ein Business-Mensch werden oder immer eher nahe am Handwerk sein? Sie und Ferran gehören ja zu den wenigen Köchen, die gleichzeitig sehr bodenständig und extrem kreativ sind.
Im Moment bin ich zu wenig in der Küche, habe aber ein sehr gutes Team, mit dem zusammen ich die Gerichte entwickle und die Entwicklung überwache.
Funktioniert das so ähnlich wie im „El Bulli Taler“, dem sagenumwobenen Kreativcenter, in dem die jeweils neuen Programm für das Restaurant entworfen wurden?
Nein, es ist anders, weil wir eben nicht nur für ein Restaurant und eine Küche arbeiten, sondern die Konzepte für alle unsere Restaurants entwickeln und das im laufenden Betrieb. Ich habe vier sehr gute Köche nur für die Entwicklung, bin aber auch schon morgens zwischen den Restaurants unterwegs und habe alle Informationen darüber, wie der Tag ablaufen wird, über die Leute, die kommen, über mögliche Probleme, aber auch über Änderungen in den Menüs oder neue Gerichte, die in Planung sind.
Wie viele Leute arbeiten für Sie?
Im Moment etwa 160. Und was die kreative Seite betrifft: Wir entwickeln etwa 400 neue Rezepte pro Jahr. Alle Rezepte sind über Cloud-Computing für das ganze Team sichtbar und so kann jeder Koch über das Wissen aller anderen Köche verfügen. Das fördert übrigens auch die Konkurrenz und damit die Entwicklung von Qualität. Ganz praktisch kann das so aussehen, dass ein Koch auf den Markt geht, einen besonders guten Fisch sieht, ein Bild davon in die Cloud stellt und dann vielleicht ein anderer Koch sagt: „O.k., sehr gut, bring mir davon fünf Kilo mit.“ Ganz ähnlich geht das dann auch mit Entwicklungen. Man stellt einen Entwurf in die Cloud und andere Köche bringen weitere Ideen ein.
Wie ist das mit dem Image der Adria-Brüdern in Spanien im Moment? Ist es klar, dass es sofort ein Erfolg wird, wenn sie irgendetwas Neues eröffnen? Ausverkauft vom ersten Tag an?
Ja, wir haben dieses Image, aber es ist manchmal kontraproduktiv. Die Leute buchen nicht mehr, weil sie denken, es ist sowieso ausverkauft. Manchmal muss auch erst klar werden, was in einem neuen Restaurant passiert. Bei unserem mexikanischen Restaurant zum Beispiel musste erst klar werden, dass das Essen nicht fettig und billig ist.