Jeremy Chang: Ikoyi. A Journey through Bold Heat with Recipes. Phaidon Press, London/New York 2023. 256 Seiten, geb., Hardcover, 54.95 Euro (in englischer Sprache)
Die Geschichte von Jeremy Chang ist sehr international und klingt gleichzeitig auch sehr nach London oder New York. Von den Eltern her ist halb kanadisch, halb chinesisch, studierte zuerst und entdeckte dann mehr und mehr seine Vorliebe fürs Kochen. Ohne die übliche Ausbildung versuchte er sofort, bei internationalen Spitzenköchen unterzukommen. Das gelang tatsächlich – im „Hibiscus“ in London, im „Noma“ in Kopenhagen und in Heston Blumenthals „Dinner“, wieder in London. Im Jahr 2017 eröffnete er mit einem afrikanischen Freund namens Iré Hassan – Odukale in London das „Ikoyi“, benannt nach einem Stadtteil in Lagos/Nigeria. Mittlerweile hat man 2 Michelin-Sterne und kam im letzten Jahr auf Platz 49 in die Liste der „50 Best“. Die Küche wird vor allem wegen ihres Stilmixes zwischen Afrika, Asien und Europa gelobt, wobei der westafrikanische Einfluss sicherlich der auffälligste ist und mit für eine schnelle Popularität der Küche verantwortlich sein dürfte. In der britischen Presse gab es irgendwann einmal den schönen Begriff „Globetrotting Ingredients“ (profan übersetzt: Zutaten aus aller Welt) als Merkmal für die Küche von Jeremy Chang. Das Degustationsmenü in dem auch architektonisch sehr speziellen Restaurant kostet 300 Britische Pfund. Iré Hassan-Odukale ist zwar mit für die Einflüsse verantwortlich, kocht aber nicht, sondern ist hier Maitre.
Das Buch
Es wird schnell klar, dass das Interessante an diesem Buch der Input in das System ist. Es gibt natürlich viele Bücher, die mehr oder weniger neue Ideen haben, sich dann aber – sagen wir: eher innerhalb des Systems bewegen. Dann gibt es eben den Steinbutt nicht mit einer normalen Beurre blanc, sondern mit einer Säure von Sauerkrautsaft. Jeremy Chang ist da ein Stück anders, weil wir bisher kaum Material auf hohem Niveau haben, das afrikanische Einflüsse verarbeitet.
Das Buch ist erst einmal grafisch gut gestaltet und schafft mit den unterschiedlichen Papieren und der sehr zurückgenommenen Fotografie eine Ausstrahlung, die eher ins künstlerische Fach geht, ohne aber irgendwie forciert zu wirken. Wie bei Phaidon-Büchern üblich gibt es klare Informationen über den Koch, seine Gedanken, seinen Werdegang und das Entstehen des jeweiligen Restaurants. In diesem Falle geht es vor allem darum, wie sich Chang langsam den afrikanischen Einflüssen näherte, wie er zuerst Vertrauen darin entwickeln musste, überhaupt neue Gerichte und Aromen zu erfinden und sich dann in vielen kleinen Stadien und Experimenten und Versuchen und Auftritten das Konzept des „Ikoyi“ herauskristallisierte. London spielt dabei immer eine große Rolle – auch bei den Fragen der Location, der sehr speziellen und nicht gerade billigen Innenausstattung und der Finanzierung des Ganzen.
Ein eher unscheinbares Kapitel hat im Rahmen der umfangreichen Basistexte da eine wichtige Überschrift: „Vergiß alles, was du kennst: neue Referenzpunkte bestimmen“. Genau das ist der Punkt, den sehr viele kreative Köche erreichen. Sie haben dann manchmal Geschmacksbilder, die sie intuitiv gut finden, die vielleicht auch noch ein paar Freunde gut finden, von denen aber nicht klar ist, ob es ausreichend viel Leute gibt, die da mitziehen. Irgendwann kann dann eben der Punkt kommen, wo man darauf bestehen muss, dass das, was man macht, gut ist – auch wenn das erst einmal nur wenige sehen. René Redzepi kann da sicherlich ein Lied von singen.
Ab Seite 45 geht es um die Rezepte, die etwas ungewöhnlich präsentiert werden. Es gibt erst jeweils für die Kapitel ganzseitige Bilder aller Gerichte des Kapitels, dann die Rezepte mit einer Erläuterung zu jedem Rezept links und dem eigentlichen Rezept rechts. Die überwiegende Zahl der Rezepte lässt schon im Titel Besonderheiten erkennen. Bei den Snacks etwa gibt es eine Cassava-Terrine (Maniok) mit Kalbshirn und Morchel, eine „Langustine Moin, Moin“ (was nichts norddeutsches ist, sondern ein Name für ein Nigerianisches Bohnengericht) oder Oktopus, mit wildem Reis frittiert und einer Hefe-Béarnaise. Die Beschreibungen der Rezepte sind ungewöhnlich ausführlich und damit sehr nützlich. Insofern wird es dem Leser leicht gemacht, sich in diesem ungewöhnlichen Umfeld zu orientieren. Unnötig zu sagen, dass Changs Kochtechnik ähnlich gemischt ist wie seine Küche, also von der Klassik bis zu allen möglichen Nova Regio-Techniken alles enthält. Insgesamt entsteht der Eindruck einer sehr gut durchdachten und entwickelten Küche und keineswegs der eines oberflächlichen Zugriffs auf ein paar „bunte“ Ideen, wie man das aus Kochbüchern der Blogger- und Autorenszene her kennt.
Hier einige weitere Rezepte, die in der Regel optisch eher knapp formuliert sind: Geräucherter Jollof-Reis mit Krabben-Custard – Überreife Kochbanane, karamellisiert mit Kelp-Alge und Marmelade von Guinea-Pfeffer – In verbranntem Seegras eingelegtes älteres weibliches Schaf mit einem Relish von geschmorter Ziege (etwas frei übersetzt) – Noir de Bigorre-Suya (Fleischspieß, Nigerai) mit Hibiscus Miso und karamellisierter Zwiebel – Gegrillter Hummer mit Komatsuma und Muschel-Emulsion – Gratinierter Kohl mit Brotsauce – Rochenflügel mit Iro Xo – Suya (nach einem Fleischspieß benannt) von einem gereiften Steinbutt-Kopf. Es wird sicher ohne weiteres deutlich, dass hier originelle Geschmacksbilder entstanden sind, die übrigens oft eine Gemeinsamkeit haben, die in der Spitzenküche eher selten genutzt wird: sie haben gerne auch einmal eine gewisse Schärfe. So muss man dann auch den Untertitel des Buches verstehen: A Journey through Bold Heat with Recipes.
Fazit
Dass es hier Input ins System gibt, ist ohne Zweifel der Fall. Trotzdem wird man wohl erst im „Ikoyi“ essen müssen, um die geschmacklichen Auswirkungen der diversen Afrikanismen beurteilen zu können. Ansonsten wird man Schwierigkeiten haben, die Produkte zu bekommen. Dennoch habe ich das Buch mit großem Interesse gelesen – natürlich auch deshalb, weil zwei Michelin Sterne üblicherweise auf ein ausgewogenes Geschmacksbild verweisen. In Vielem steckt auch eine gewisse Radikalität, die ein wenig an diverse Nova Regio-Pioniere erinnert – zum Beispiel hin und wieder neben Redzepi auch an Magnus Nilsson. Für den Übertrag auf andere kreative Systeme gibt es hier weiteren Schwung, so dass der Nutzen insgesamt sehr gut ist.
Das Buch liegt einen Tick höher als 2 grüne B’s, weil die Erläuterungen sehr gut und interessant sind und das speziell für Kreative.
Fotos: Phaidon/Maureen Evans