Heiko Nieder gehört zu jenen deutschen Spitzenköchen, die im Ausland arbeiten und deshalb manchmal bei uns nicht so präsent sind, wie sie es eigentlich verdient hätten. Als Küchenchef hat Nieder nicht viele Stationen hinter sich. Mir fiel er in seiner ersten Station im „L’Orquivit“ in Bonn auf, wo er von 2002 bis 2008 gekocht hat und im Jahr 2005 seinen ersten Stern holte. Sein Stil war kreativ, aber nicht unbedingt revolutionär, und es schmeckte einen Tick anders. Es gab vor allem aromatisch interessante Gerichte wie etwa „Hummer mit Staudensellerie, Mango und Olivenöl“ oder „Jakobsmuscheln mit Datteln, Pinienkernen und Minze“, wobei damals schon auffiel, dass Nieder die Balance zwischen Süße, Herzhaftigkeit und Säure sehr viel kulinarischer angegangen ist als viele seiner Kollegen, die sich speziell bei der Süße (etwa zu Fisch) oft ins Banale verlaufen.
Um die Arbeit von Heiko Nieder in Zürich zu verstehen, muss man wissen, dass es in Zürich (wie in einer Reihe von Schweizer Städten) ohne weiteres möglich ist, eine konsequente Luxusgastronomie zu etablieren – mit Allem, was dazugehört. Das Hotel „Dolder Grand“ oberhalb der Innenstadt ist ein Luxushotel mit sehr viel internationalem Publikum, das diesen Luxus (zu dem übrigens auch eine beeindruckende Kunstsammlung gehört) aber sehr selbstverständlich und nicht unbedingt demonstrativ oder sonstwie verkrampft nutzt. Dass im Gourmetrestaurant auch schon mal Familien mit Kindern in Freizeitkleidung auftauchen, ist hier durchaus nicht unüblich. Für die Küche bedeutet das die Notwendigkeit der Wahl eines international verständlichen Stils, der dann mit großem Aufwand und vielen Details realisiert wird. Heiko Nieder ist da der richtige Mann am richtigen Platz.
Für das Jahr 2019 habe ich ihn in der FAZ zum „Liebling des Jahres“ in der Abteilung „Koch des Jahres International“ gewählt. In dieser Abteilung kommen in der Regel nur Köche aus dem deutschsprachigen Raum oder aus grenznahen Restaurants vor. Zu den Preisträgern gehörten zum Beispiel Marc Haeberlin, Jonnie Boer, Andreas Döllerer, Heinz Reitbauer jr. oder Tanja Grandits. Der Grund für die Wahl von Heiko Nieder war für mich eine Reihe von ganz hervorragend ausgearbeiteten Gerichten. Nieder ist und bleibt ein Kandidat für den dritten Stern, wobei ich die Hoffnung hatte, dass er die Patisserie zur weiteren Steigerung und Abrundung des Niveaus an Christian Hümbs gibt. Der wiederum arbeitet zwar im „Dolder“, aber eben nicht in der Küche von Heiko Nieder.
Das Buch
Insgesamt wirkt das Buch edel, aber nicht protzig inszeniert, die Dinge werden sorgfältig berichtet, aber es fehlt jede Anmassung, wie man sie leider immer wieder in Kochbüchern von Spitzenköchen findet. Natürlich gibt es keine Naturbilder, wie man sie bei Restaurants mit einer stärkeren regionalen Anbindung findet – dazu ist das Restaurant eben zu sehr international aufgestellt. Die Fotos der Gerichte (Fabian Häfeli) bzw. die Anrichteweise lassen sofort an zwei Köche erinnern. Es gibt Ähnlichkeiten zum großen Michel Bras – Buch von 2003 mit seinen Reihen vereinzelter Elemente, und es gibt Ähnlichkeiten zu Jan Hartwig und seinen kompakten, meist rund angelegten Gerichten mit einer Vielzahl von Mikroelementen obenauf. Überhaupt fällt insgesamt die große Vielfalt auf, die sicher auch der Tatsache geschuldet ist, dass Heiko Nieder schon längere Zeit in Zürich arbeitet. Er kann aus einem beträchtlichen Fundus schöpfen.
Die Struktur folgt den Jahreszeiten. Die jeweiligen Kapitel sind sodann gegliedert in „Apero“, „Amuse-Bouche“, „Menü“ und „Süssigkeiten“. Den Abschluss bildet jeweils eine kleine Bilderstrecke zu einem Thema. Im Frühling ist dies „Die große kulinarische Oper“ mit Bildern aus dem Restaurant, im Sommer „Kunst, Hotel- und Tellermomente“ mit Bildern vor allem aus dem Hotel, im Herbst „Die Bewältigung des Unerwarteten“ mit Bildern aus der Küche, und im Winter „Das perfekte Paar“ mit dem Thema Wein und Speisen. Mit Lisa Bader verfügt „The Restaurant“ ja auch über eine vielfach ausgezeichnete Sommelière. Grundrezepte, der Lebenslauf von Heiko Nieder und Register beenden das Buch.
Im Detail wird die Stilistik der Rezepte schnell erkennbar. Im Frühling etwa gibt es „Hummer mit Erdbeere, Rote Bete, Estragon und Senf“ oder „Reis mit Rote Bete, Kokosnuss, Kapern und getrocknete Kirschen“. Bei diesem Rezept gibt es dann: Eingekochte Mini-Rote Bete, eine Kokosnussluft, Kapernsaft-Gelee, eingekochte und getrocknete Kirschen und ein Rote Bete – „Risotto“. – Im Sommer gibt es zum Beispiel „Seeigel mit Oscietra-Kaviar, Pfirsich und Chorizo“ oder „Pfifferlinge mit gebeiztem Eigelb, Bohnensalat und Cassis. Optisch ist dies eine runde Komposition mit Mikroelementen rund um die Suppe. – Im Herbst gibt es etwa die „Ochsenbrust mit Schnecken-Kruste, Meerrettich und Kohl“, eine Art Türmchen mit einem Deckel voller Mikroelemente. Im Winter „Imperial-Kaviar und Räucherstör mit Ampfer und Banane“ oder „Gänsemastleber-Essenz mit geräuchertem Rinderfilet, Meeresgrün und Curry“. Ein Blick auf die Rezeptdetails und meine eigenen Degustationen machen eine Anmerkung nötig: Wer glaubt, das klinge ein wenig bunt oder forciert, liegt bei Heiko Nieder falsch. Es ist – siehe oben – geradezu seine Spezialität, eine absolut „seriös“ schmeckende Küche auch mit Zutaten zu realisieren, die schon mal ein gewisses Misstrauen auslösen. Diese Fähigkeit, den Produkten einen neuen Raum zu schaffen, ist sehr interessant. Ich habe diese Art der Kreativität (die zum Beispiel auch Harald Wohlfahrt immer hatte) immer eine eingebundene Kreativität genannt. Man verlässt nicht den Rahmen der Grundlagen der europäischen Spitzenküche der letzten Jahrzehnte, aber man füllt ihn erfindungsreich und subtil neu aus.
Fazit
Wegen der enormen Vielfalt an Ideen (zum Beispiel auch in den vielen Snacks und Amuse Bouche-Gerichten) ist dieses Buch ein großer Fundus für eine Küche, die maximal, allgemeinverständlich und auf der Höhe der Zeit arbeiten will. Es geht hier nicht um eine freischwebende Kreativität, nicht um kulinarische Demonstrationen, sondern um etwas, das man ohne weiteres als „Werk“ bezeichnen kann. Hier arbeitet ein großer Handwerker mit einem subtil-künstlerischen Geschmacksverständnis in einer Küche der fortgeschriebenen Moderne.
Das Buch ist also sehr gut, es hat Substanz. Die Bewertung liegt zwischen zwei BB und drei BBB grünen B.
Fotos © Matthaes Verlag/Fabian Häfeli