Der neue Gault Millau ist erschienen, und ich werde mich nicht wesentlich an der Diskussion der Bewertungen beteiligen. Das kann man alles so machen oder auch lassen oder anders machen. Dass Joachim Wissler, dessen Abwertungen durch den Guide Michelin ich umfangreich attackiert habe, beim GM unter den besten Drei zu finden ist, freut mich natürlich. Im Prinzip habe ich mich aber vor allem gegen eine willkürliche Entscheidung von eminenter Bedeutung für die Kochkunst in unserem Land gestellt und dies so genau wie möglich und in einem Umfang begründet, der in deutschen Zeitungen unmöglich scheint. „Genugtuung“ oder Ähnliches empfinde ich da nicht. Wenn ich einen Text zum Gault Millau geschrieben hätte, hätte er vielleicht die Überschrift bekommen: „Der neue Gault Millau: jetzt noch weniger präzise!“.
Handwerk 2.0
Meine Reaktion geht nicht in die Vergangenheit, sondern nach vorne. Mich beschäftigt im Moment gerade wieder einmal mehr ein Zustand, der auch im Gault Millau (wie in den anderen Führern) überhaupt nicht direkt gewürdigt wird. Um es plakativ zu sagen: wir bräuchten dringen eine Liste der besten Restaurants mit einer ebenso gradlinigen wie grandiosen Küche, bei denen es immer vor allem um die Optimierung der Produkte geht und nicht so sehr um Kompositionen rund um oder mit Produkten. Bei denen jeder Mensch erkennen kann, was ein gutes Produkt ist, und wie es im Unterschied zu schwächeren schmecken kann. Küchen, bei denen jedes Produkt auf dem Teller größte Sorgfalt in der Produktauswahl, Garung, Aromatisierung und Komposition erkennen lässt, also Küchen, die im grunde das machen, was alle behaupten, aber kaum jemand macht (oder kann…): die Regeln der Kochkunst ganz präzise anwenden. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Rückkehr des optimal exekutierten Handwerks, das uns gerade bei den einfacheren oder zur Mittelklasse gezählten Restaurants mittlerweile gründlich abhanden gekommen ist. Es geht nicht um die produktorientierte Luxusküche eines Bernard Pacaud im „L’Ambroisie“ in Paris, es geht um den Luxus der optimalen Zubereitung und Inszenierung guter Produkte, die eben nicht zwangsläufig hochpreisig sind, es geht um das seriöse BIO-Huhn und weniger um die Bresse-Poularde, es geht um Forelle, Kabeljau und Merlan und weniger um den Steinbutt von über 6 oder 9 Kilo, es geht um Präzision und nicht darum, möglichst schöne Bilder zu erzeugen, es geht nicht um „weniger ist mehr“, sondern um den maximalen Mehrwert, den man guten Produkten angedeihen lassen kann.
Die Diskussionen um das Handwerk gibt es schon immer. Hier und heute muss es um ein neues Verständnis von handwerklicher Qualität gehen, um ein Verständnis, das vielleicht erst heute entstehen kann, weil es Produkt einer neuen Denkweise ist, die nicht nur den Traditionen oder nur der Moderne folgt, sondern Beides berücksichtigt, und dazu noch den ganz wichtigen Teil der Wirkungen und Auswirkungen der Kochkunst für das gesamte System von Ernährung und Genuss. Es geht zum Beispiel um eine reflektierte und optimierte sensorische Struktur, die immer noch – und das selbst bei besten Köchen – nicht die Rolle spielt, die sie spielen müsste. Köche, die diesen Bereich nicht beherrschen, missachten die Produkte, sie verkleistern statt herauszuarbeiten, sie dekorieren statt zu inszenieren. Eine gute sensorische Struktur ist immer noch eine ganz große Seltenheit. Und – sie sollte nicht das Privileg der Meister sein, sondern eben zur neuen Normalität im besten Sinne werden, zu Handwerk 2.0.
Was es gibt und was nicht
Wer meint, so etwas gäbe es doch – zumindest in der guten Regionalküche oder bürgerlichen Küche – sollte sich die oben genannten Kriterien noch einmal gut durch den Kopf gehen lassen. Ja, es gibt eine Reihe von sehr guten Beispielen, und nein, sie sind immer noch extrem selten. Ich habe vor einigen Tagen eine kleine Pappschachtel mit Kartoffeln von der Ile de Noirmoutier gekauft. Es waren nicht die berühmen „Bonottes“, sondern eine andere Sorte, die aber offensichtlich von den einmaligen Böden der Insel profitierte. Ich habe sie also konzentriert mit Haut ganz dezent in Salzwasser mehr sieden lassen als gekocht usw. (also ganz nach Robuchon…) und sie dann pur mit einer sehr guten Butter gegessen, die mit Fleur de Sel angereichert war. Wer das nachvollziehen kann, wird wissen, dass so etwas grandios schmeckt und schnell zu Gedanken führt, was in unseren Küchen eigentlich alles falsch gemacht wird. Wäre eine solche Degustation als Gang in einem Restaurant möglich? Mit einem angeschmolzenen Carpaccio von absolut exzellent reifen Tomaten als Vorspeise, die mit ein paar frisch aus dem Garten geholten Kirschtomaten kombiniert werden? Als Hauptgericht ein Suprême vom Landhuhn, pochiert in einem Gemüsesud, der dann anschließend so stark reduziert wird, dass er „nappante“ wird und als einzige Zutat das Huhn, das nur in der Ruhephase gesalzen wird, begleitet (überglänzt)? Ich habe in den letzten Jahren Elemente in dieser Art bekommen, aber meist eher zufällig und nicht wirklich einem kompletten System folgend. Die Wirkungen solcher Degustationen und Gänge war jeweils sehr beeindruckend und wirkten ausgesprochen „gesund“.
Realitäten sind aber zum Beispiel die beiden Gerichte, die ich hier abgebildet habe. Sie stammen beide aus französischen Restaurants und sind gekennzeichnet durch eine für das Hauptprodukt verheerende sensorische Struktur, in beiden Fällen vor allem durch Röstnoten hervorgerufen, die bei weitem zu stark sind und in keinerlei Zusammenhang irgendeinen vernünftigen Effekt haben. In einem Falle steckte unter der Kruste ein übergarter, unerfreulich schmeckender Lachs, im anderen Falle ein eigentlich schönes Stück vom Kabeljau, das seine Qualitäten bei dieser Kruste aber nicht entfalten konnte. Die naheliegende „Verlagerung“ der Röstnoten auf den Pulpo, der dann wie ein Gewürz wohldosiert einen Bissen vom Fisch begleiten könnte, fand nicht statt, die Röstnoten wurden sozusagen verdoppelt. Unnötig zu erwähnen, dass die Beilagen kaum eine wesentliche Rolle spielten bzw. – beim Lachs – eine ausgelaugte Katastrophe waren. Der Lachs stammt aus einem populären Restaurant mitten in Le Touquet, der Kabeljau aus dem „L‘ Anecdote“ einem weiteren Restaurant von Alexandre Gauthier in Montreuil. Ich schätze Gauthier als Gourmetkoch sehr. Er ist für mich derjenige Zwei Sterne-Koch in Mitteleuropa, der am dringendsten drei Sterne bekommen müsste. Seine Arbeit im „L’Anecdote“ habe ich hier noch vor einem dreiviertel Jahr hoch gelobt. Das kann mich nicht daran hindern, das aktuelle Essen dort zu kritisieren. Vielleicht gibt es dort ja corona-bedingte Probleme mit der Küchenmannschaft, vielleicht aber auch eine mangelnde Kontrolle durch den Meister.
Wo ist das Ranking für die richtig guten Vertreter von Handwerk 2.0?
Man sollte die Besten ihrer Zunft aus dieser Abteilung der Küche, die leider als solche immer noch nicht existiert, die aber für alle Beteiligten der reine Segen wäre, eigentlich in einem nationalen Ranking wiederfinden, dessen Bedeutung man absolut in die Nähe der besten Restaurants in den üblichen Führern sehen müsste. Restaurants dieser Art müssten bundesweit bekannt werden, die Namen der Köche müssten populär werden. Aber – noch einmal die Warnung – so etwas gibt es kaum, wird aber immer behauptet. Nein, irgendwelche dry aged – Steaks gehören meist nicht in diese Abteilung, und man muss bei der Regionalküche schon ganz genau hinsehen, um dort die wenigen Köche und Gerichte zu finden, die man – eine typische Qualität für Handwerk 2.0 – vielleicht anders, aber nicht besser machen kann.
Daran muss ich gerade denken und weniger an die dauernden Versuche, die Gourmetküche zur einzig relevanten zu erklären.
Als meist stiller Mitleser erlaube ich mir nur mal ein Zitat des geschätzten Dieter Maiwert (Tegernsee), der mir Laien die Sternebewertung mal wunderbar bescheiden erklärte: „Einen Stern zu bekommen, ist sehr einfach: Du musst einfach nur alles „richtig“ im Sinne der Kochkunst machen. Damit wird man (wie ich) allerdings nie so richtig fertig.“
Bei der Kartoffel musste ich auch sofort ans Ernst denken, ich fand es dort sehr manieriert. Sorry, aber eine gute Kartoffel ist und bleibt eine Beilage, von der ich in Spitzenrestaurants auch Spitzenqualitäten erwarte, meist vergeblich, so weit, so richtig.
Und richtig ist auch, dass die Guides für mich bei handwerklicher Qualität kaum noch Aussagekraft haben , sondern vermeintliche Kreativität überbewerten. Liegt aber am Publikum, die Guides wollen verkaufen, nicht erziehen.
Bei Maria Groß, da stimme ich der Vorrednerin zu, ist Handwerk und der Fokus auf das Produkt, gepaart mit exzellenter Kochkunst, ganz normaler Standard. Dazu noch diese tollen Gastgeber, diese Qualität, die auserwählt ist und richtig Spaß macht. Die Bachstelze ist derzeit das modernste Restaurant, mit klassischen Werten.
Sehr geehrter Herr Dollase,
Sie haben mit vielen Punkten immer wieder recht. Für mich ist die aktuelle französische Küche – vor allem im täglichen “ normalen“ Niveau der Restaurants aber ein erhebliches Problem – ein Fragezeichen – eine Katastrophe bisweilen, siehe Ihre Beispiele – und darüber müsste man auch einmal schreiben mit Einbeziehung der sozialen Gesichtspunke – und unter Berücksichtigung auch der enormen Unterschiede im Nutzungsverhalten hinsichtlich der Restaurants in unseren Ländern und des sehr verschiedenen pouvoir d`achat.
Der 2. Punkt, der für mich aus Ihrem Artikel und aus anderen früheren herausspringt, ist die Frage , ob „man“ bei einer Blindverkostung die Qualität der Produkte – nicht der Zubereitung ! – differenzieren kann ? Meine eigenen Kartoffeln und Zwiebeln sind für mich immer das Beste….ob man da wohl Unterschiede – z.B. zu handesüblicher Ware wirklich !! merkt ?
3. Purismus – sehr geehrter Marius – ist schön und gut aber in einem (interessanten und daher meist teuren) Restaurant suche ich nicht die perfekte Erbsenschote wie im Ernst z.B. Die mach ich selbst……
Mit freundlicher Begrüßung ! HS
Ein wirklich interessanter Beitrag. Maria Groß ist eine Vertreterin dieser Zunft. Wer bei ihr einmal Essen war, kommt kaum noch auf die Idee kommen in den Gault Millau zu schauen, um ein Restaurant mit außerordentlichem Handwerk zu suchen.
Es ist schon mehr als irritierend, wenn ein deutscher Gastrokritiker vor dem Hintergrund des vom Gault Millau frisch gekürten Restaurant des Jahres „ernst“ dieses mit keiner Silbe erwähnt, um dann anlässlich der Degustation einer puristisch gefassten Kartoffel allen Ernstes die Frage aufzuwerfen „Wäre eine solche Degustation als Gang in einem Restaurant möglich?“.
Siehe unten bei Peter Adams. Bei Döllerer gab es so etwas einmal, ich habe es gegessen und die Wirkung war – gelinde gesagt – erheblich. Was das „Ernst“ angeht, das im GM durchaus keine Höchstnote erhält, sehe ich mich durch eine Ehrung in einem Führer nicht dringend gezwungen, etwas dazu zu sagen. Ich sehe allgemein die Bedeutung der Führer im Moment mangels klarer Perspektiven zur Erfassung der ganzen guten Gastronomie als eher schwindend an. Was die Kartoffeln angeht: ja, es gibt Begegnungen mit Produkten, die fast Natur sind und die in Frage stellen, ob wir nicht mit anderen Küchen irgendwo mächtig in Sackgassen geraten sind.
Vermutlich haben Sie das Ernst noch nicht besucht. Denn viele der von Ihnen angesprochenen Punkte werden dort (mit großem Purismus) umgesetzt. Man würde sich gerade dort nicht wundern, einen Gang wie die von Ihnen beschriebene Kartoffel zu bekommen. Der Ehrung des Ernst hätte also ein idealer Aufhänger für Ihre Ausführungen sein können. Daher war es schon irritierend, dass dieses Restaurant noch nicht einmal erwähnt wurde.
Marius, ich hatte schon den schweren Verdacht, dass er diese Anspielung nicht versteht, dazu muss man sich mit der Küche von Dylan Watson schon genauer befasst haben – ich bin ebenso ein Fan dieser puristisch reduzierten Küche. Im Übrigen ist der angesprochene Kartoffel-Hinweis vergleichbar mit einer Gegenüberstellung der „Macaronis farcis“ von Eric Frechon und ein Pastagericht von Mauro Uliassi: es gibt genau ein einziges verbindendes Element zwischen beiden Gerichten, und das ist die Nudel, ansonsten haben die beiden genau nichts gemeinsam. Ebenso verhält es sich mit dem Kartoffelgericht von Döllerer (am ehesten vergleichbar mit dem „Lungauer Eachtling“ Gericht, also quasi einer Kartoffel mit Beilage) und der puristischen „medium-rare“ Kartoffel von Dylan Watson, zwischen den beiden Gerichten gibt es null Zusammenhang (außer der Kartoffel). Aber in der hier geltenden „Dollase-Wissler“ Bewertungsskala (Wissler=100 Punkte, der Rest darunter) wird die Küche von Dylan Watson wahrscheinlich unter „ferner liefen“ eingeordnet, deswegen wundert es mich auch nicht, dass hier kein Verweis erfolgte.
Lieber Gerhard, danke für die interessanten Ausführungen. Allerdings war in Dollases Beitrag der Bezugspunkt eine selbst zubereitete Kartoffel und nicht die von Döllerer. Die kam erst später durch die Kommentare ins Spiel. Und es ging hier auch mehr um das Prinzip, welches schon in seinem Purismus Beitrag anklang, als um den Vergleich verschiedener Gerichte. Man kann sicherlich unterschiedlicher Meinung über die Küche von Watson-Brawn sein, aber ignorieren darf man sie nicht. Vor allem in einem Beitrag anlässlich des neu erschienenen Gault Millau, in dem eine Liste der Köche gefordert wird, bei der „es immer vor allem um die Optimierung der Produkte geht und nicht so sehr um Kompositionen rund um oder mit Produkten.“
Lieber Gerhard R., bitte lesen Sie meinen text präzise. Ich habe weder größere Beziehungen zum Gault M Millau hergestellt noch im Grunde zu einem Thema, das die Arbeit im „Ernst“ betrifft. Das „Ernst“ und ähnliche puristische Avantgardisten wären für eine breite Öffentlichkeit viel zu avantgardistisch. Ich habe mich erstens auf die traditionelle Kochkunst und ihre Qualitäten bezogen, die sodann – vor allem sensorisch – auch durch die Moderne ergänzt werden sollte. Die Küche, die ich meine wäre in etwa das, was ich hier schon einmal als „Schnittstellen-Küche“ beschrieben habe, also eine Küche, die sowohl verständlich wie anspruchsvoll ist. – Ein Wort noch zu meinem Einsatz für Joachim Wissler/Michelin: ich hätte mich auch für andere Köche im gleichen Fall so eingesetzt. Meine Position ist da viel objektiver. – Und noch ein Wort zum „Ernst“: solche Mini-Restaurants mit ihrem oft sehr unflexiblen Zeit- und Raummanagement kann man manchmal über längere Zeiträume hinweg nicht besuchen. Ich fahre Touren, aber nicht zu einzelnen Restaurants.
Eine kurze Rückmeldung: ich habe ihren Text präzise gelesen, meine „Kartoffel Referenz“ bezieht sich auf den Kommentar von Marius und dessen entsprechenden aus meiner Sicht sehr treffenden Hinweis. Ich wollte ebenso nicht genauer auf die genauen Schnittstellen und Abgrenzungen eingehen. Dass das Ernst schwer buchbar wäre, kann ich absolut nicht bestätigen. Dass derartig gefragte Restaurants nicht für ein Essen am kommenden Tag buchbar sind, versteht sich von selbst, mit entsprechenden Vorlaufzeiten (und den weiteren Möglichkeiten wie in Berlin) ist die Buchung jedoch absolut problemlos. Ihren Einsatz für Wissler befürworte ich sehr, das hatte ich an anderer Stelle schon bemerkt. Den wiederholten Hinweis darauf halte ich für entbehrlich.
Mir wurde von ein Koch aus Franken , der auch eine Nova Regio Küche betreibt, nun auch in der Selbstständigkeit, nahe gebracht das Sie das „Ernst“ überhaupt nicht ernst nehmen.
Seine Meinung war , dass das wohl damit zu tun hat , da Herr Watson Ihnen den von Ihnen gewünschten Respekt nicht entgegen bringt.
Hunde sind ja dort wohl auch nicht erwünscht.
Ich würde einfach Mal behaupten Herr Dollase , das Sie auch gerne bevorzugt bewerten , und natürlich immer.in eine Richtung , die für Sie passt.
Was passiert eigentlich mit einem Küchenchef der nicht in das Poesiealbum Ihres Hundes schreiben will?
Das Ernst ist nicht mein Lieblingslokal, aber immerhin eines der spannendsten Restaurants der Welt , wen man einigen Ihrer Kollegen glauben schenken darf.
Kartoffeln als Gang?
Einen solchen Gang habe ich in Golling im Restaurant Döllerer bekommen.
Als ein Intermezzo im großen Menü. Es gab dazu zwar auch einen sehr guten Hirschschinken aber die kleinen Kartoffeln mit einer gerollten Almbutter habe ich bis heute auf der Zunge.