Der amerikanische Koch-Star Thomas Keller hat einmal gesagt, dass es für ihn das Erwärmen von Fisch oder Fleisch noch keine Kochkunst ist. Er richtete sich damit gegen eine ganze Reihe von im Grunde sehr oberflächlichen Regeln der klassisch-französischen Küche, wo es ja schließlich auch in großer Naivität heißt, dass es sich dann um eine gute Küche handelt, wenn die Produkte so schmecken, wie sie schmecken/wenn die Produkte ihren Eigengeschmack behalten. Aber… was ist der Eigengeschmack von einem Stück Rinderfilet? Roh und ungesalzen? Oder angebraten, wobei sich der Geschmack durch das Braten schließlich ganz erheblich verändert? Viele der „Regeln“ der klassischen Kochkunst entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als nur scheinbar logisch und vernünftig. Sie stammen aus einer anderen Zeit, in der man die komplette Küchenarbeit ausschließlich innerhalb eines geschlossenen Systems betrachtet und bewertet hat. So lange man sich in diesem System der klassisch-französischen Küche bewegte (oder bewegt) ist das auch alles nachvollziehbar. Heute aber denken wir anders, weitaus differenzierter und nicht mehr so sehr an den Regeln einer bestimmten Küche, sondern an universellen Regeln orientiert, die im Prinzip für sehr viele Küchen dieser Welt gelten.
Die Vorstellungen von großer Qualität sind teilweise überkommen
Seit mittlerweile vielen Jahrzehnten wird als eine Art Basisqualität für alle guten Restaurants das Vorhandensein von guten Produkten, guten Garungen und einer guten Würze gefordert. Auch die Gäste und die Kritik richten sich nach wie vor häufig an solchen Maßstäben aus. Heute können solche klassischen Kriterien nur noch für Restaurants mit kulinarisch einfachen oder sagen wir: mittelprächtigen Konzepten gelten.
Natürlich ist es eine Freude, wenn man in einem Gasthaus mit regionaler Küche ein erkennbar gutes Produkt in guter Garung und einer schönen Würze bekommt. Das gleiche kann auch für Brasserien oder Restaurants gelten, die stilistisch eher unspezifisch arbeiten und vor allem auf einen allseits akzeptablen, „guten“ Geschmack achten. Aber – kann so etwas für die Spitze der Kochkunst noch Gültigkeit besitzen? Reicht das? Ist das der kulinarischen Weisheit letzter Schluss?
Ich habe mit diversen deutschen Spitzenköchen schon vor vielen Jahren immer die Diskussion führen müssen, ob zum Beispiel die in Deutschland ankommende Fischqualität wirklich optimal ist, oder ob nicht die besten und frischesten Stücke vor allem bei den französischen Kollegen landen. Hier gibt es zwei- oder dreimal pro Woche eine Fischlieferung, dort kommt jeden Morgen das Material an, das am Nachmittag irgendwo an der Küste angeliefert wurde. Die absoluten Spitzenqualitäten, die sich in meinem Gedächtnis eingenistet haben, habe ich ohne Ausnahme nicht in Deutschland erlebt. Dazu kommt, dass man (zu) lange Zeit davon ausgegangen ist, dass man mit herkömmlichen Methoden optimale Ergebnisse erzielen kann. Über die Möglichkeiten der Vakuumgarung kann man ja vielleicht hier und da noch diskutieren. Aber was mittlerweile eine Reihe von Köchen in puncto Garung und Würze/Aromatisierung realisiert haben, schafft schlicht und einfach neue Maßstäbe. Oder – noch schlichter und einfacher: es schmeckt bei ihnen besser, als das jemals irgendwo der Fall war.
Die zwei Wege: Purismus und maximale Intensivierung der Arbeit
Von modernen Köchen werden eine ganze Reihe von Parametern durchdacht, die von eher klassisch orientierten Köchen meist nicht bedacht wurden. Dazu gehört vor allem ein ausgeweitetes und vertieftes Verständnis der Sensorik, aber auch die klare Erkenntnis, dass man ein Produkt zum Beispiel durch komplexe Gartechniken noch zu ganz neuen Höhen führen kann – ohne es dabei zu denaturieren oder in irgendeiner Form nicht in seinem Eigengeschmack zu würdigen. So, wie von den besten klassischen Köchen in seltenen Fällen exorbitant gute Varianten der klassischen Regeln realisiert wurden, denken heute auch zeitgenössische Köche das Produkt einfach umfassender und entdecken eine Menge von weiterführenden Möglichkeiten.
Dabei kann die Arbeit durchaus klassisch sein. Der eine Weg für die Zukunft ist sicherlich ein Produktpurismus, der sich einer geradezu wissenschaftlichen Präzision bedient und ein wirkliches Maximum an Produktqualität (was z.B. auch beim Fisch ja Reife sein kann) mit einer genial präzisen Garung und einer ebensolchen Aromatisierung kombiniert. Dass solche Qualitäten selbst in Drei-Sterne-Häusern keine Selbstverständlichkeit sind, brauche ich vielleicht nicht extra zu betonen.
Eine solche Küche hätte Hauptprodukte, die im Prinzip keine Begleitung mehr brauchen und die in der Regel minimalistisch mit Mikroelementen begleitet würden. Gerichte dieser Art sind heute nach wie vor extreme Ausnahmen.
Die offensichtlichen Beispiele kommen heute aus einem anderen Lager, und zwar von Köchen, die entweder der Avantgarde zuzurechnen sind oder sich der Revision klassischer Kochkunst verschrieben haben. Sie praktizieren meist einen enormen Aufwand und aktivieren das ganze Wissen eines absoluten Spitzenkochs, um zu Lösungen zu kommen, die in ihrer Qualität oft wirklich Verblüffung auslösen können. Hier dazu einige Beispiele, die zu dem besten gehören, was ich in Jahrzehnten bei diesen Produkten gegessen habe:
– Die Wachtel bei Björn Frantzén. Das Fleisch der ja normalerweise nicht so spektakulären Wachtel wird in einem komplexen Verfahren mit verschiedenem Feuer, verschiedenen Warmhaltephasen und Glasuren zu einem bis ins letzte Detail überzeugenden Geschmack gebracht. Aromatisch ist die Orientierung mit Trüffel etc. durchaus klassisch, das Garverfahren über offenem Birkenholz-Feuer hat archaische Elemente.
– Die „Kalbsbäckchen, in Burgunder geschmort, Ochsenmark, Petersilien-Spinat, römische Nocke und Radicchio-Vinaigrette“ von Jan Hartwig im „Atelier“ in München. Hartwig lässt für keines seiner Hauptprodukte klischeehafte Geschmacksvorstellungen gelten, sondern macht das, was man eigentlich auch von absoluten Spitzenköchen erwartet. Man erwartet, dass sie mit ihrem Verständnis Dinge realisieren können, die zu unbekannten Qualitäten führen. Der Geschmack der nun wirklich seit Urzeiten verwendeten Bäckchen ist unglaublich delikat und vielfältig und dabei doch eindeutig.
– „Holzkohle, Taube und Buchenpilze, schwarze Johannisbeere“ von Marco Müller. Der Berliner Koch vom „Rutz“ ist zwar einer der besten Avantgardisten des Landes, hat aber in der Produktbehandlungen kein radikales, sondern ein enorm entwickeltes Verständnis. Seine in diversen Stadien behandelte Taube gehört zu den besten Exemplaren weit und breit. Anders als bei Frantzén ergeben sich allerdings weniger Erinnerungen an klassische Aromen. Marco Müller bleibt auf der sehr modernen Seite, man bemerkt klassisch fundierte Techniken, die Wirkung verschiedener Garungen und kommt dann doch zu dem Ergebnis, dass die Taube modern schmeckt. Nur – diese Modernität wirkt eben sofort so gut, dass sie „normale“ klassische Optimierungen hinter sich lässt.
– Die „glasierte Kalbsleber“ von Torsten Michel. Michel bringt bei dieser sensationellen Leber klassische Techniken und moderne Vorstellungen gleichzeitig zur Anwendung. Das Ergebnis aus einem enorm guten, extrem „sauberen“ Geschmack, der exzellenten Garung in einer dicken Schnitte und einer optimierten Glasur ist von einer faszinierenden Qualität. Auch Michel, der in der “Schwarzwaldstube“ auch zu Zeiten von Harald Wohlfahrt schon für viele klassische Zubereitungen zuständig war, sucht in seiner Arbeit mittlerweile ein neues Maximum
Die Entwicklung der Kochkunst ist nicht abgeschlossen – ganz im Gegenteil. Es eröffnen sich immer wieder neue Perspektiven und natürlich auch immer wieder neue Aufgaben für junge Köche. Die Entwicklungen sollten ein Ansporn für jede Art von Küche sein – auch für eher traditionell orientierte Köche, die sich nie vorstellen konnten, dass das, was sie gelernt haben, eines Tages erweitert werden wird.