Die nordische Küche – und vor allem die neue nordische Küche – sollte man nicht als modische Abweichung und noch weniger eine Bedrohung für die Werte der klassisch-französischen Küche sehen. Dass sie in unser Bewusstsein und das von Interessenten rund um den Globus gekommen ist, hatte auch viel damit zu tun, dass die kreative Öffnung der Küche seit den 90er Jahren und vor allem dann mit der spanischen Avantgarde die Köpfe etwas freier und aufnahmebereiter gemacht hat. Wenn man es so sieht, stellt man auf einmal fest, dass es im Norden ein ganzes Universum von Andersartigkeiten gibt, und das eben in ganz verschiedenen Bereichen – von Feuer, Rauch und Asche bis zu einem anderen Verhältnis zu Säure oder einem anderen Verhältnis zu rohen Elementen. Von solchen Aspekten kann so gut wie jede Küche angereichert werden. Der Kontakt ist ein Gewinn, und es sollte nie darum gehen, die eine Küche durch die andere zu ersetzen. Dass einige der ehernen Werte der klassischen Küche unter Druck geraten, sollte nicht als aggressiver Akt gesehen werden. Gute Küchen halten so etwas aus. Wenn ich heute darüber nachdenke, was denn eigentlich eine echte State-of-the-Art-Küche sein könnte, gerate ich angesichts solcher Erweiterungen immer sofort in allerbeste kreative Stimmung. Vielleicht sollten einmal ein paar Mitteleuropäer mehr als bisher eine nordisch inspirierte Fusion-Küche machen. Die beste machen im Moment immer noch skandinavische Köche wie Björn Frantzén oder Rasmus Kofoed, die in einer faszinierenden und weltweit Aufsehen erregenden Weise das Beste der Welten zusammenbringen.
Und so kann man sich auf weiteres Material aus dem hohen Norden nur immer wieder freuen, zumal die Köche im Norden die angenehme Neigung haben, viel nachzudenken und das dann auch spannend aufzuschreiben. Die meisten Kochbücher der besten Skandinavier sind immer auch hochinteressante Lesebücher, in denen in meist großer Offenheit die Geschichte und das Leben rund um ein Restaurant erzählt werden.
Vorab möchte ich hier einmal die ungefähren Preise im „Slippurinn“ durchgeben. Vorspeisen kosten rund 14–22 Euro, Hauptgerichte rund 25–40 Euro. Ein 5-Gang-Menü kostet etwa 60 Euro, ein 7-Gang-Menü ungefähr 75 Euro.
Das Buch
Erst einmal gibt es ein Vorwort von Slow Food-Gründer Carlo Petrini, was in zweierlei Hinsicht bemerkenswert ist. Auch wenn Petrini darauf hinweist, dass es sich hier vor allem um ein lokales Restaurant handelt, dass exakt mit eben diesen lokalen Produkten eine exzellente Küche macht, bleibt doch im Hintergrund immer die Distanz von Slow Food zur Spitzenküche. Ich habe seit vielen Jahren darauf hingewiesen, dass man einen Fehler mache, wenn man exakt diejenigen Küchen, die das machen, was man bei Slow Food eigentlich will, ein Stück außen vor lässt, wenn sie „zu teuer“ sind. Dabei ist das Schlimmste nicht einmal ein solches verqueres Dogma, sondern vor allem die Tatsache, dass das Bio und Co.- Publikum in vielen Fällen diesen Gedanken besonders intensiv lebt und sich dann oft genug in irgendwelchen langweiligen Restaurants aufhält, die nur einen wirklichen Vorteil haben, nämlich den Einsatz von Bio-Produkten. Das aber nur am Rande.
Die Gliederung dieses ersten Buches von „Slippurinn“ ist einfach, der Inhalt dafür detailliert und prächtig zu lesen. Man kann hier regelrecht ins Land und in die Küche eintauchen. Es geht um „Essbare Pflanzen und Algen“, Gemüse, Samen und Körner, Fisch und Muscheln, Seevögel und anderes Geflügel, Fleisch, Süßes und Basisrezepte. Im Zusammenhang mit den Kapiteln erfährt man dann Alles über das Land, seine karge Vegetation und seine Tiere – also das Material, mit dem ein Koch dieses Nova Regio-Verständnisses auskommen muss (obwohl „muss“ vielleicht der falsche Ausdruck ist: das ganze Konzept hat etwas komplett Selbstverständliches). Jedes Kapitel beginnt mit einer Übersicht über die Materialien, bei der schnell klar wird, dass man es auf Island zu etwa einem Drittel mit Produkten zu tun hat, die es bei uns nicht gibt (was natürlich umgekehrt ebenfalls der Fall wäre…). Bei den Algen findet sich dann auch schon einmal Dulse mit einem Dip von Lodde-Rogen oder es gibt ein eingeheftetes kleines Heftchen mit Getränken auf Kräuterbasis. Beim Gemüse zeigt ein wunderschönes Foto riesige Grünflächen auf den Klippen und mittendrin einen kleinen, kultivierten Gemüsegarten. Das wiederum lässt daran erinnern, dass das „Slippurinn“ nur im Sommer geöffnet ist. Mehr scheint hier angesichts des Wetters und der Vegetation nicht sinnvoll zu sein. Es gibt schrumpelig geröstete Karotten mit fermentiertem Karottenjus und Kiefernöl, rohes Gemüse mit einer Emulsion von Austernkraut oder gegrillten Kohl mit Sauerampfer und einer Art Restesauce.
Viele Gerichte bestehen aus drei Elementen, bringen also eine große Klarheit und Produktnähe, wie sie für viele skandinavische Nova Regio – Köche charakteristisch ist. Beim Fisch findet man geräucherten Hering mit Essig-Karamell und Haselnuss, die gepickelten Makrelenstücke gibt es mit einer Koji-Emulsion, mit Weizen fermentierte Schalotten und Strandkräutern, gegrillte Schulterstücke vom Heilbutt mit einer Glasur von Seegras und Algen, oder Rochen mit Blumenkohl, Estragon und einer Lamm-Reduktion. So geht es weiter mit Muscheln, Möweneiern oder Gänseherz, wobei man eigentlich nie den Eindruck hat, als ob Gisli Matt ein forcierter Kreativer ist, der unbedingt etwas ganz Ungewöhnliches produzieren will. Das Ungewöhnliche ergibt sich aus den Produkten und aus der Verwendung traditioneller Techniken wie zum Beispiel Fermentierungen. Im Vergleich etwa zu Magnus Nilsson vom „Fäviken“ wirkt Gisli Matt nicht so forciert auf der Suche auch nach Extremen, sondern – sagen wir: nützlicher orientiert.
Fazit
Wieder einmal bringt uns der Phaidon-Verlag ein hochinteressantes Buch eines Kochs, der auf der Schwelle zu internationalem Ruhm steht, weil er in der Konsequenz seiner Arbeit zu spannenden Ergebnissen kommt. Dass hier mit Produkten gearbeitet wird, die anderswo nicht unbedingt zur Verfügung stehen, spielt kaum eine Rolle, weil der Transfer dieser Ideen problemlos überall erfolgen könnte. Mittlerweile ist diese Nova Regio-Küche ja eine Küche, die viele jüngere Köche gerne machen würden, wenn sie denn Sensibilität und eine entsprechende Akzeptanz beim Publikum voraussetzen könnten. Sie würden dies gerne machen, weil sie wissen, dass dieser Ansatz in seiner ganzen Nachhaltigkeit und selbstverständlichen regionalen Orientierung Zukunft hat. Insofern spricht erst einmal der kulinarische Verstand für dieses Buch. Aber – es ist auch der assoziative Kontext, der hier voll zur Wirkung kommt, während dieser Bereich bei manchen Versuchen bei uns – oft mangels Konsequenz – noch nicht so ganz funktioniert.
Ein sehr gutes Buch, das vor allem auch die Einbettung der Küche in eine Landschaft zum Thema hat. Das Buch bekommt 2 grüne BB
Fotos © Gunnar Freyr Gunnarson und Karl Petersson, Phaidon Verlag