Erst einmal hätte ich das Buch in einer Buchhandlung in Colmar beinahe übersehen. Es stand bei den diversen Elsass-Büchern und der Titel sah so ähnlich aus wie einer dieser folkloristischen Bände, die es in großer Zahl dort zu kaufen gibt. Glücklicherweise habe ich es dann doch in die Hand genommen. Mir wäre sonst eines der größten Bücher-Vergnügen der letzten Zeit entgangen. Dazu muss ich sagen, dass ich mich über zwei Typen von Büchern am meisten freue: einmal natürlich über Alles, was neu ist, weil mich so etwas elektrisiert. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass sich ein Kritiker, der seinen Beruf ernst nimmt, grundsätzlich und ganz natürlich für Neues interessieren wird und sorgsam damit umgeht. Der zweite Typus sind Bücher, die für mich eine gewisse Anarchie ausstrahlen, weil sie sich überhaupt nicht um das zu kümmern scheinen, was „man“ gerade kochen muss, sondern das präsentieren, was man kann und präsentieren will, und zwar geradezu mit einer Lust, so etwas auch gegen jeden Trend auszukosten.
So ein Buch ist „Alsace“. Es stammt von einem Koch und Restaurateur, der mit dem „Chez Julien“ in Fouday (etwa 30 km westlich der Route des Vins d‘Alsace, auf der Höhe von Barr) mittlerweile ein großes Hotel und Restaurant besitzt. Und weil in Frankreich die Umsatzzahlen ohne weiteres öffentlich verfügbar sind, kann ich auch mitteilen, dass er im Jahr 2018 etwas mehr als 12 Millionen Euro umgesetzt hat. Gérard Goetz ist 65 und ein kulinarischer Handwerker allererster Güte, der in seinem Restaurant zwar nicht nur elsässer Traditionsgerichte anbietet, dessen Herz aber ganz offensichtlich diesen Traditionen gehört. In seinem erstaunlich umfangreichen Buch hat er eine solche Menge von Rezepten zusammengetragen, dass selbst Kenner verblüfft sein werden.
Das Buch
Gérard Goetz bearbeitet in diesem Buch 40 Produkte in 110 Rezepten. Es versteht sich von selber, dass bei dieser Menge nicht nur die bekanntesten Rezepte vom Choucroute bis zum Baeckeoffa zu finden sind, sondern auch eine ganze Menge weiterer, die man eher selten findet. Hier hat jemand sein Leben mit der elsässer Küche verbracht und sie wirklich verinnerlicht, verstanden und entsprechend ausgeweitet. Und – es geht „zur Sache“. Weder Diät-Vorstellungen spielen eine Rolle noch sonstige Überlegungen, die Traditionen etwa zu verwässern. Hier ist alles im Einsatz, was die traditionelle französische Küche und ihre Optimierungen so beliebt gemacht hat, also Butter, Sahne, Crème fraîche, Foie gras, Morcheln, konsequent und in immer ausreichender Menge – um es einmal sehr vorsichtig zu formulieren.
Ein Buch wie dieses würde bei uns in Deutschland also vermutlich schon nicht mehr als kulinarisch-politisch korrekt eingestuft, weil sich Gérard Goetz dem Essen in einer bei uns kaum jemals anzutreffenden, begeisterten, lustvollen Form nähert. In der Einleitung des ersten Kapitels, in dem es um Würste und Co. geht, heißt es dann auch „Ein Tag ohne Charcuterie ist wie ein Winter ohne Schnee, ein Bier ohne Schaum, ein April ohne Spargel, das Ende eines Essens ohne Schnaps“. Das ist – der geneigte Leser wird zustimmen – nicht gerade frauenzeitungskompatibel. Zu Beginn steht dann auch die Blutwurst und all das, was die Auslagen in einer elsässer Charcuterie so appetitanregend und üppig macht – bis hin zum gefüllten Gänsehals, dessen Füllung natürlich auch wieder jene Dosis von Foie Gras enthält, die den Geschmack adelt. Man erinnert sich daran, dass auch in französischen Drei Sterne-Restaurants vor gar nicht so langer Zeit noch getrüffelte Schweinsfüsse auf dem Programm waren (ich erinnere mich z.B. an Boyer in Reims) und Ducasse bis auf den heutigen Tag in vielen seiner Restaurants die Pâté en croûte auf dem Programm hat. Natürlich ist es bei Goetz nicht ganz so aufwändig verfeinert, aber es hat immer etwas von dieser klassischen Form der Optimierung.
Nach der Charcuterie geht es weiter mit „Der Winter nähert sich“, später geht es um die „Zeit des Spargels“, um Alles, was mit Wasser zu tun hat, um den Sommer in den Bergen, die Zeit der Weinlese und um viele süße Gerichte im Jahreslauf. Das „Poulet noir d’Alsace“ macht Goetz in der Salzkruste, die Taube wird an der Cracasse geröstet und von viel Zwiebeln begleitet. Beim „Coq au Riesling“ muss man vor allem den richtigen Punkt für die Reduktion und Bindung der Sauce treffen, und der „Bettelmann“ ist genau das Gegenteil an Kuchen. Die Suppen eignen sich nicht als Zwischengang oder setzen einen Magen voraus, der über ein geradezu mittelalterliches Fassungsvermögen verfügt, und was bei Bocuse die berühmte Trüffelsuppe war, kommt hier als „Crème de volaille en mini-soupière feuilletée“ auf den Tisch – mit Morcheln natürlich, Foie gras und Trüffel.
Ein Beispiel für die Breite seiner Rezepte sind die Schnecken, die er nicht nur in der Standardfassung mit Knoblauchbutter präsentiert, sondern auch als Fricassée mit Brot oder als Kougelhopf. Fasan und Co. gibt es wie aus einem rustikalen Paralleluniversum, das aber eben trotz der Rustikalität immer über Finesse verfügt – auch innerhalb der rustikalen Elemente und nicht nur wegen Foie gras und Co. Dem Wein wird ganz selbstverständlich auch das Bier zur Seite gestellt und – ganz anders als bei vielen anderen Köchen – geht es bei Kuchen und Co. mindestens genau so üppig weiter, süß, saisonal, mächtig, aromenstark.
Kochtechnisch zeigt Goetz eine durchgehend hoch entwickelte, traditionelle Arbeit, die selbstverständlich auch noch mit Mehl und Ei in den Bindungen arbeitet, bei der Zwiebeln, Knoblauch und gerne auch ein paar Kräuter eine Rolle spielen. Zeitgenössische Techniken gibt es kaum, insofern eignen sich die Rezepturen im Prinzip auch für die häusliche Küche. Jüngere Köche können hier exemplarisch studieren, wie in dieser Küche Geschmack erzeugt wird, dass sie oft Zeit braucht und dass der Gesamtgeschmack eines Gerichtes immer im Vordergrund steht – nicht ziselierten Details und schon gar nicht Dekorationen.
Fazit
Das Buch ist in seiner ganzen „Anarchie“ exzellent und kann einschlägig Interessierten ausgesprochen viel Freude bereiten. Die Küche ist zwar traditionell, aber in keiner Weise altertümlich oder aus der Zeit gefallen. Dass sie in manch ein großstädtisches Gastronomie-Programm so gar nicht mehr zu passen scheint, sollte die Gourmets nicht stören. Dies ist eine entwickelte, sichere, sagenhaft süffige Küche, eine „andere“ Küche, keine „alte“.
Das Buch bekommt im Prinzip 2 grüne BB, weil die ganze Machart aber so authentisch und optimiert ist, dass man es zu den wichtigsten Büchern mit Küche aus dem Elsass zählen muss, bekommt es dann doch 3 grüne BBB
Fotos © Louis Laurent Grandadam / Editions de La Mariniere
Traumhaft!
Ich darf für meine Familie nur noch an einem Tag in der Woche einen Hauptgang mit Fleisch (Wild, Rind-, Kalbfleisch) servieren. Ich habe noch einen Tag mit Geflügel durchgesetzt (Biohühner, Gans. Wachteln und Fasan sind schon nicht mehr erlaubt). Und ein Tag mit Fisch. Bleiben vier Tage mit Gemüse und Nudeln. Bitte mit nicht zuviel Butter, möglichst keine Sahne. Olivenöl ist erlaubt, Rapsöl auch. Es nervt. Und ich befürchte, dass selbst dieses Buch meine Familie nicht neugierig machen könnte. Stattdessen fordern sie immer neue Ottolenghi-Variationen. Ich krieg mich kaum noch ein vor lauter Kichererbsen…
You made my day!!! Herzhaft gelacht. Ich bin mit einer Französin verheiratet. Bei meinem Schwager sieht es ähnlich aus wie bei Euch. Glücklicherweise is(s)t meine Frau vernünftig. Das Buch wird unverzüglich angeschafft.