Vorbemerkung 1: Das „Bullipedia“ – Konzept
Ferran Adrià meldet sich wieder deutlich kräftiger zu Wort. Nach dem Ende von „El Bulli“ gab es eine Menge von Gerüchten und Meldungen, aus denen sich erst langsam herauskristallisierte, was denn in Zukunft eigentlich passieren wird. Am gewichtigsten war dabei das „Bullipedia“ – Konzept. Dazu hier eine kurze Erläuterung. Adrià hatte schon vor Jahren auf verschiedenen Veranstaltungen darauf hingewiesen, wie ungenau, falsch oder unvollständig die kulinarischen Informationen auf Wikipedia sind. Diese Feststellung gilt bis auf den heutigen Tag. An den Qualitäten der Einträge hat sich nicht viel geändert, es sei denn, es macht sich einmal irgendein Einzelner oder eine Gruppierung daran, einzelne Einträge einigermaßen korrekt aufzufüllen. In vielen Fällen sind die Einträge auch deutlich interessengesteuert und insofern manipuliert. Dem wollte und will Adrià entgegentreten und in einem riesigen Projekt ein eigenes Internet-Lexikon schaffen. Ich war vor einiger Zeit in Barcelona und habe mir einen Einblick in den Stand der Arbeit machen können. Mit über 70 festen Mitarbeitern und vielen international verknüpften Wissenschaftlern versucht man nicht weniger als das gesamte kulinarische Wissen zu erfassen und in eine kommunizierbare Form zu bringen. Und weil das seine Zeit dauern wird, ist das erste Projekt eine Kollektion von 35 schwergewichtigen Büchern, die zusammen eine Art „Gastronomische Enzyklopädie“ darstellen sollen. Der hier besprochene Band ist nicht der erste erschienene, aber der erste, der konsequent international in englischer Übersetzung über den Phaidon-Verlag angeboten wird.
Vorbemerkung 2: Adrià verstehen
Auch die Arbeit als Koch im „El Bulli“ konnte man immer am besten verstehen, wenn man Adrià als Forscher sah. Es ging ihm nicht darum „leckeres“ Essen zuzubereiten oder die Gäste in ihren Vorlieben abzuholen. Er war ausschließlich daran interessiert, was man alles machen kann, mit welchen ungewöhnlichen Produkten und mit welchen Hilfsmitteln. Daraus wurde dann gemacht und geformt, was möglich war – ohne danach zu fragen ob irgendeine bizarr aussehende Struktur jetzt nun besonders „gut“ schmeckt oder nicht. Insofern ging es dann beim Schmecken auch eher um neuartige Erlebnisse, um neue Strukturen, die sich ausbilden, wenn zum Beispiel nicht alle Komponenten eines Gerichtes mehr oder weniger ineinanderfließen, sondern wenn es ausgefeilte sensorische Kontraste gibt. Dass er dabei kaum Interesse daran hatte, „normales“ Essen „aufzupeppen“, sondern bei seiner forschenden Linie geblieben ist, hat eine gewisse Logik. Im „El Bulli“ führte er also Forschungsergebnisse vor.
Im Zusammenhang mit dem neuen Band über Kaffee benutzt Adrià die Begriffe „sapiens“ (lateinisch für „weise“ oder „vernünftig“) und „innovation through understanding“. Es sind Schlüsselbegriffe für seine ganze Arbeit, die von der Einsicht geprägt ist, dass eine isolierte Sicht auf die Dinge weder zu guten Ergebnissen im Detail noch zu einem guten Verständnis von Zusammenhängen und zur Wirkung der Ergebnisse in guten Zusammenhängen führt. Mit einer isolierten Sicht sucht man eben in der Regel nicht danach, ein Fach oder ein bestimmtes Wissensgebiet erst einmal umfassend zu begreifen, um danach zu richtigen, sinnvollen Entscheidungen und Handlungen zu kommen. Wenn man die Gedanken auch nur einmal kurz durch verschiedene Aspekte des kulinarischen Bereichs schweifen lässt, wird man sofort feststellen, wie selten „Innovation durch Verstehen“ tatsächlich zu finden ist. Versteht man dagegen die Dinge in ihrer ganzen Komplexität, ist es wesentlich wahrscheinlicher, zu sinnvollen Aktionen zu kommen – auch wenn immer die Gefahr besteht, sich in Details zu verheddern. Aber – im Sinne Adriàs ist natürlich auch die Fähigkeit, zu klaren Aktionen zu kommen, eine Folge des komplexeren Verstehens. Für das kulinarische Wissen bedeutet Komplexität immer auch eine gute Balance zwischen kulinarischen und gastronomischen Aspekten, oder – sehr verkürzt gesprochen: kulinarische Ideen sind vor allem dann gut, wenn sie auch gastronomisch gut funktionieren. Die Aktivitäten der Adrià-Brüder in Barcelona sind im Prinzip übrigens so etwas wie ein Beweis für diesen Ansatz. Restaurants wie das „Tickets“ sind klare Vorbilder dafür, wie man gute, innovative Küche und eine ebensolche Gastronomie zusammenbringen kann.
Coffee Sapiens
Das Buch ist eine gigantische Sammlung aller Aspekte rund um den Kaffee, aufgemacht im zeitgenössischen Infographic-Stil, also immer mit dem Versuch, die ungeheuer vielen Fakten auch anschaulich zu machen. Entstanden ist es in enger Kooperation mit der italienischen Firma Lavazza, was zu allerlei Bildern mit Lavazza-Produkten führt, aber vermutlich außer der Lavazza-Konkurrenz angesichts der angesammelten Fakten kaum jemand stören wird. Welche Finanzierung hinter welchen Projekten steht, ist ohnehin bei vielen Buchprojekten nicht unbedingt bekannt – soll hier aber erwähnt werden. – Der umfassende, im Grunde mehr als lexikalische Anspruch des Buches wird schon bei den Kapitelüberschriften deutlich. Es beginnt mit den Grundlagen und „Kaffee als ein nicht bearbeitetes Produkt: vom Anbau bis zur Ernte“. Dem folgt natürlich „Kaffee als ein bearbeitetes Produkt: der Prozess der Herstellung“. Diese beiden Kapitel verbrauchen schon etwa 250 Seiten und bringen absolut erschöpfende Informationen über jede Sorte und jedes Anbaugebiet und alle Nuancen der Herstellung. Danach geht es an den Kaffee als ein entwickeltes Produkt und sein Verbrauch in der westlichen Hemisphäre und in diesem Zusammenhang auch an „Elaborations with Coffee“ von Latte Macchiato bis zum Eiskaffee – immer allerbestens erklärt und mit Infographics in jedem technischen Detail erläutert. Was leider nur nebenbei erwähnt wird – aber vielleicht von vielen erwartet werden könnte – sind Gerichte unter Verwendung von Kaffee. An diesem Punkt gibt es also kein Adrià-Special aus der großen Trickkiste des Meisters.
Die neuartige Wendung in Richtung Gastronomie und Konsumption setzt ab Seite 426 mit dem Kapitel „Kaffee: Wo und wann man ihn trinkt“ ein. Hier geht es vom privaten Bereich über die Gastronomie bis zu den Professionals. Alles wird untersucht, inklusive der körperlichen und psychischen Wirkung von Kaffee. Im Kapitel darauf, „The Coffee-Bar Setting: Offer and Experience” ist eine ganz besondere Pretiose zu finden, nämlich eine wunderbare infographische Darstellung dessen, was man über das Schmecken und seine Funktionen bisher erforscht hat – natürlich wieder in allen Aspekten und etliche Seiten lang.
Ein echter Schwerpunkt ist der gastronomische Teil im engeren Sinne mit „Die Kaffee-Bar: das Business und wie man ein Business aufbaut“ (22 Seiten). Dann „Wie man eine Kaffee-Bar im täglichen Geschäft führt“ (60 Seiten), „Was man braucht, um eine Kaffee-Bar zu managen“, „Die Voraussetzungen, die man braucht, um eine erfolgreiche Kaffee-Bar zu betreiben“ und schließlich „Innovationen für ein Business, das immer weiter wächst“. Diese gastronomischen Handreichungen sind so ausführlich und Präzise, dass sie auch für jedes andere gastronomische Gewerbe ein exzellentes Werkzeug bieten. Das Kapitel über Innovationen etwa ist in Form eines Gesprächs zwischen Professor und Studenten gestaltet, was es auf eine lockere Art und Weise möglich macht, Probleme der Praxis und die wissenschaftlichen Erläuterungen zusammenzubringen.
Den Abschluss bilden zwei Kapitel, die sich mit der historischen Entwicklung rund um den Kaffee beschäftigen – einmal „Die soziokulturelle Bedeutung von Kaffee“ und dann die „Geschichte des Kaffees von der Antike bis zur Jetztzeit“.
Fazit
„Coffee Sapiens“ stellt alles bei weitem in den Schatten, was es an Büchern über Kaffee gibt. Dabei ist die schiere Akkumulation von Wissen über das Objekt nur ein Teil des Effektes. Neu ist die umfassende Sicht auf ein kulinarisches Objekt bis hinein in alle Aspekte des täglichen Lebens. Außerdem bricht dieser „Bullipedia“ – Band mit der Tradition, alles nur aus der Sicht des Konsumenten zu sehen – obwohl sich ein großer Teil des Wissens auf Seiten der Produzenten wie Gastronomen ansammelt. Hier also wird das gesamte Wissen zusammengetragen und damit gleichzeitig die Latte für das, was kulinarisches Wissen ist, auf ungeahnte Höhen gelegt. Insofern ist nicht die Arbeit von Ferran Adrià im „El Bulli“ ein verwandter Ansatz, sondern auch die Hypergenauigkeit eines Nathan Myhrvold und seiner „Modernist Cuisine“. Im Vergleich zu einem solchen Bullipedia-Band wirken sehr viele Sachbücher zu kulinarischen Themen sehr beschränkt und in ihrer Sicht sehr eingeschränkt. Vielleicht führt eine solche Entwicklung ja zumindest dazu, dass Verlage wieder darauf achten, dass ein kulinarisches Buch bitte schön doch auch wirklich über einen mitteilenswerten Inhalt verfügen sollte. Und noch einmal der Hinweis darauf, dass der Inhalt dieses sensationellen Buches bei weitem nicht nur für Freunde des Kaffee-Themas höchst interessant ist.
Das Buch bekommt natürlich 3 grüne BBB
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