Es lebe die kulinarische Freiheit! Kochbuch des Monats: Jordi Rocas „Anarkia“

Jordi Roca: Anarkia. Über 450 extravagante Dessertrezepte. Matthaes Verlag, Stuttgart 2018. 560 Seiten, Großformat, 118 Euro (bis 30.4.)

Jordi Roca (39) ist Patissier im „El Celler de Can Roca“ in Girona, und mit seinen Brüdern Joan (Koch) und Josep (Sommelier) für eines der besten Restaurants der Welt verantwortlich. Und – der „Celler“ ist nicht nur einfach ein hervorragendes Restaurant, sondern auch ein Hort unglaublicher Professionalität und Kreativität. Während man in unseren Landen im Grunde Professionalität und Kreativität oft in einem gewissen Gegensatz sieht, gehört sie in Spanien – und speziell bei den Rocas – unbedingt zum Bild eines großen Restaurants dazu. Außerdem gilt dort eine Art von Kreativität, die nicht unbedingt aus übergroßer Vorsicht oder etwa dem vorsichtigen Abwägen besteht, ob etwas denn beim Publikum auch ankommt. Wenn einer eine gute Idee hat, wird das gemacht und nicht wieder sozusagen in langen Gremiensitzungen bis zur Unkenntlichkeit nivelliert. Und so wundert es nicht, dass Jordi Roca – der manchmal wie ein verschrobener Dessert-Druide wirkt, es aber faustdick hinter den Ohren hat – mit knapp 40 Jahren ein Buch wie „Anarkia“ veröffentlichen kann. Er hat wahrlich Pfunde, mit denen man wuchern kann, und das nicht nur einmal oder ein paar Mal, sondern seit nahezu zwei Jahrzehnten.

Das Buch
Wieder einmal ist es der Matthaes-Verlag, der ein Großwerk der internationalen Küche ins Deutsche übersetzt und die Inhalte damit zugänglich macht. Das Buch ist im Original in Spanien im Jahre 2016 erschienen und ein echter Gigant an Inhalt und Qualität. Schon bei der ersten Durchsicht kann man nur staunen, was sich bei Jordi Roca im Laufe der Jahre alles angesammelt hat, welche irrwitzige Fülle an Einfällen er hat und mit welcher Souveränität und Gelassenheit das alles präsentiert wird. Im Detail gibt es zu Beginn des Buches ein paar Bilder des Meisters und verschiedene Verzeichnisse. Die „Kreationen“ (z.B. „Weißer Tee von Bulgari“) sind dabei die eigentlichen Rezepte nach üblichem Verständnis, während die „Rezepte“ alle Einzelzubereitungen auflisten, die in den Kreationen enthalten sind (z.B. „Kaffee-Granité“). Zusätzlich gibt es ein Verzeichnis der „Schritt-für-Schritt-Anleitungen“ und eines der Zutaten.

Den Beginn machen „Ikonen“, Rezepte, die „zu Mythen wurden, zu Ikonen der weltweiten Gastronomiekultur“. Dem mag man angesichts der vielen Kopien der Arbeiten Rocas nicht widersprechen (die „Reise nach Havanna“ etwa, jene nachgebaute Zigarre nebst Asche hat es schließlich auch schon zu Drei Sterne-Kollegen geschafft). Alle Rezepte sind ausführlich beschrieben und zu größeren Teilen mit Step-by-Step-Bildern illustriert. Es wird dabei deutlich, dass Roca das komplette Instrumentarium der Küchentechnik beherrscht und von der Klassik bis zur Avantgarde ein Meister aller Stile und Details ist, wie es ihn kein zweites Mal gibt.

Nach den „Ikonen“ gibt es aber erst einmal einen Hinweis darauf, wie stark sich Joan und Jordi gegenseitig inspirieren und folglich eine Reihe von Joans Rezepten vom Amuse Bouche-Olivenbaum über die bizarren „Anchovisgräten in Tempura“ bis zum Tomatenbrot. Dann kommt das volle Jordi-Programm, wobei man sich immer wieder vergegenwärtigen sollte, dass Jordi Roca eine Unmenge von Dingen erstmals realisiert hat. Hier ein buntes Panorama der Sammlung: „Anarkia aus mexikanischer Schokolade“, sozusagen die auf Schokolade beschränkte Verkleinerung des für das Buch namensgebenden „Anarkia“-Rezeptes, jener Versammlung von gefühlt 597 Einzelelementen. „Zigarrenkiste“, die wunderbar vielfältige Kombination von Schokolade, Tabak und Whisky, die diversen monochromen Arbeiten („Sinfonien“) bis hin zu Crossover-Elementen (bei „Sinfonie in grün“ natürlich), Kompositionen rund um Blüten oder der „mediterrane Garten“. Die beträchtliche Sammlung der berühmten Parfüm-Interpretationen ist vertreten, es gibt „Erbsen und Lakritzcreme“, die Neubestimmung von „Erdbeeren mit Sahne“, „Café Colombia“, seine Pralinenkollektion, und – last not least – Arbeiten aus seiner Eisdiele, bei der das Eis gerne eine Form annimt, die man – sagen wir: bei Eis nicht unbedingt erwarten würde – die Nase Jordi Rocas in knallrot etwa, der witzige „Finger des Kolumbus“ oder das nackte Abbild von Model Andrés Velencoso, zum Ablutschen eben.

Fazit
Das Buch erfüllt alle Erwartungen und zeigt – vor allem auch in der Summer der Einzelzubereitungen –, dass man ein Maximum an Ideen am besten realisieren kann, wenn man über ein Maximum an Kenntnissen und eine unstillbare Neugier verfügt. Das Alles wird hier zwar grafisch aufwändig inszeniert, aber nicht mit dem Personenkult, den so manch ein anderes Buch großer Köche durchzieht. Die Wahl des Titels spricht für sich: Alles ist möglich, dann lasst es uns auch machen. René Redzepi hat einmal über den Einfluss von Ferran Adrià auf seine Küche gesagt, am wichtigsten sei gewesen, dass Adrià klar gemacht habe, wie frei man als Koch sei und dass man sich keine Grenzen setzen sollte. Die Anarchie bei Roca ist aber nicht nur die totale kreative Freiheit der Realisation, sondern immer auch ein Verweis darauf, dass die Beherrschung der Mittel (um das engere Wort „Handwerk“ zu vermeiden) das Nonplusultra für kreative Patissiers und Köche ist.

Das Buch wird Kochbuch des Monats und bekommt 3 grüne BBB

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