EAT DRINK THINK KONSTRUKTIV Was ist ein State-of-the-Art-Gericht? Folge 2: Fünf Teile und konkrete Beispiele

In der zweiten Folge geht es um die mögliche Struktur eines „State-of-the-Art“ – Gerichtes und ihre mögliche Füllung. Mir scheint ein etwa fünfteiliges Gericht geeignet zu sein, weil mit dieser einigermaßen überschaubaren Menge eine gute Trennung der Elemente möglich ist, die wiederum für den Esser ein klares Spiel mit den Perspektiven einer solchen Komposition möglich macht. Würde man die Elemente zu eng zusammenrücken, könnten sie sich überlagern oder beim Essen zerlegt werden. Es muss die Möglichkeit geben, ganz klar von einem Element zu probieren, dann das nächste usw. und zusätzlich jederzeit Akkorde bilden zu können. Wie in Folge 1 erwähnt, handelt es sich nicht um eine Variation von Zubereitungen (die sehr einfach ausfallen könnten), sondern um eine Art variertes Spiel mit der Rezeption. Es geht immer auch darum, dass sich beim Esser bestimmte Reaktionen einstellen können. So gesehen handelt es sich um eine Art komplette Küche, die alle Qualitäten eines Kochs enthalten kann, aber sehr bewußt davon ausgeht, dass sich ein Essen nur dann vollendet, wenn es gegessen bzw. rezipiert wird (und nicht nur als Bild existiert…).

Hier nun mein Vorschlag für eine mögliche Struktur:

P.S. Die Bilder zeigen nur eine weite Palette der Kochkunst, sie illustrieren – mit Absicht – nicht die fünf Teile

 

 

 

 

 

 

 

Teil 1 ist das optimierte und individualisierte Hauptprodukt. Es geht hier explizit nicht nur um ein optimiertes Hauptprodukt von einer exzellenten Qualität und Garung etc. Das wäre zu wenig, zu normal. Es geht um eine individualisierte Form, die erstens zeigt, dass der Koch sein Handwerk beherrscht und zweitens, dass er darüber hinaus eine Vorstellung davon hat, wie man ein Produkt zu einem maximalen Glanz verhelfen kann. Als Beispiel fällt mir da eine Hühnerbrust bei Arnaud Lallement in Reims ein. Natürlich war das Produkt und die Garung bestens. Dann hatte sich Lallement anscheinend zum Ziel genommen, das von sich aus aromatisch nicht wirklich kräftige Hühnerfleisch mit etwas zu kombinieren, das dem als Streifen auf dem Teller liegende Stück Glanz gab, ohne dabei seine geschmackliche Priorität zu gefährden. Es war mit einer Creme überzogen, die so dicht war („nappante“), dass sie quasi am Fleisch kleben blieb und ein prächtig gemüsiges Hühneraroma hatte. Mit diesem Mittel schmeckte das Stück sensationell gut und süffig und gleichzeitig unbedingt wie allerbeste Spitzenküche. Es war ein optimiertes und individualisiertes Hauptprodukt par excellence. – Ein ähnliches Stück habe ich auch einmal bei Torsten Michel bekommen, der ein hervorragendes Rinderfilet mit einer Sauce glasiert hat, die Aal plus einige asiatische Aromen vereinte. Auch das war ganz klar ein klassisch-optimierter Kern und eine Individualisierung/Interpretation, die die Qualitäten des reinen Produktes noch erweiterte.

 

Teil 2 ist ein traditionelles Stück

Wenn man sich überlegt, was Teil I sein kann, wie genial es schmecken kann, und wie sehr es „nach Spitzenküche“ aussieht, wird der Einsatz eines traditionellen Stücks auf dem gleichen Teller erst einmal sehr verwundern, weil ein solches Stück aus einer ganz anderen Art der Küche zu stammen scheint. Um bei dem Filet von Torsten Michel zu bleiben: das traditionelle Stück dazu wäre (Thema: Rind) zum Beispiel eine Scheibe von einer – natürlich optimierten – Rinderroulade. Beim Huhn (siehe oben) wäre es vielleicht eine Keule vom Stubenküken, die rundum kräftig geröstet ist und insofern all das in Kleinformat hat, was ein gegrilltes Hähnchen o.ä. an Huhn-Aroma bringt. Diese geröstete Keule würde sich also in der Nähe eines in einem cremigen Sud pochierten Bruststreifens befinden, der mit einer Gemüse-Creme überzogen ist.

Für den Esser sind solche scheinbaren Kontraste üblicherweise gar nicht so problematisch, wie das die Küchen-Profis vielleicht vermuten könnten. Die Esser werden zum überwiegenden Teil ganz genau erkennen, was hier passiert, und dass sie in der Keule ihre Erinnerungen an Huhn finden, während das optimierte Bruststück in faszinierender Weise zeigt, wie fein und gleichzeitig beeindruckend aromatisch eine Zubereitung der Brust sein kann. Schon dieser erste „Kontrast“, dieses erste Spiel mit Erinnerungen schafft eine ganz andere Ebene der Einbeziehung als jedes „normale“ Gericht. Ein solches Zitat aus dem kulinarischen Gedächtnis ist ein ganz wichtiger Kernpunkt der „State-of-the-Art“ – Idee, weil er den Platz der anderen Elemente sozusagen definieren hilft.

 

 

 

 

 

 

Teil 3 ist ein traditionelles Stück in moderner Inszenierung

Die Inszenierung von Aromen etc. – man könnte sie auch „Verpackung“ nennen – spielt für die nächsten beiden Teile eine ganz besondere Bedeutung. Es geht bei diesem Teil 3 nicht um eine komplette Dekonstruktion, bei der man erst einmal gar nicht erkennen kann, um was es sich da eigentlich handelt. Es geht darum, ein typisches Produkt/eine typische Zubereitung in einer überraschend anderen Inszenierung zu präsentieren – zum Beispiel um Vorurteile der Esser gegenüber bestimmten traditionellen Stücken zu beseitigen. Das traditionelle Element wird auf diese Weise kulinarisch sozusagen emanzipiert, es wird durch die moderne Inszenierung de facto auch moderner (weil eben auch die Inszenierung ein Teil der „Botschaft“ ist).

Als Beispiel gehe ich hier zu einem „State-of-the-Art“ – Gericht vom Schwein. Um den Zusammenhang herzustellen nenne ich hier auch Teil 1 und Teil 2. Teil 1 beim Schwein wäre ein Streifen vom Iberico-Kotelett mit einem „Deckel“ von Röstnoten-Stückchen, geschmorten Stückchen und Innereien-Stückchen (als Würze). Teil 2 wäre beim Schwein ein Taler von Serviettenknödel mit gezupftem Haxenfleisch darauf und einer Sauerkrautsauce (die zum Beispiel auch eine Beurre blanc mit Sauerkraut-Infusion sein könnte). Teil 3 nun wäre zum Beispiel ein (Brat-)Wurst-Tatar mit kleinen, im Bild modern aussehenden Tupfern von speziellem Ketchup, Würfeln von Senf-Gelee, Tupfern Kartoffelpüree und vielleicht etwas gerösteter Kümmel. Man hätte ein Gericht, das mit seiner Inszenierung überrascht, dann aber aromatisch eine klare Wiedererkennung möglich macht. Die milde Form der Dekonstruktion (eigentlich ist ein Tatar keine Dekonstruktion…) die hier ein wenig wie ein Gericht von Frederic Anton aussehend könnte (er macht gerne Dinge mit kleinen Punkten) wird sicher nicht als echte Verfremdung erlebt werden, sondern eben als Neuinszenierung eines traditionellen Akkordes

Teil 4 ist eine Interpretation in traditioneller „Verpackung“

Das Element in diesem Teil muss sehr bekannt vorkommen und dann eine echte Überraschung in sich haben. Im Zusammenhang mit dem Schwein als Hauptprodukt könnte das zum Beispiel eine Art Krokette sein (rund oder länglich), also eine Form, die regelmäßig „Harmloses“ oder Bekanntes signalisiert. Diese traditionelle Verpackung wird sodann mit einem interpretierten und am besten auch sehr überraschenden Inhalt kombiniert. Insofern solle man eher eine Kugel nehmen, die man als ganzes essen kann und keine längliche Krokette, die zum Durchschneiden auffordert. Der Inhalt kann aromatisch, aber auch von der Textur her ungewöhnlich wirken – vielleicht ein Mix aus Schweinebäckchen und Schweinekinn mit einer leicht asiatischen Würze, die dann auch mögliche Assoziationen an rustikale Gerichte ein wenig blockiert und dem innovativen Eindruck Platz lässt. Es muss jedenfalls eine Füllung sein, die irritiert und sich nicht einordnen lässt, dann aber überraschend gut schmeckt. Insofern würde sich die Spannung/Überraschung positiv auflösen.

Teil 5 ist ein Zubereitung mit avantgardistischen Aspekten

Ganz allgemein mache ich hier heute nur Vorschläge, die nicht zu extrem sind und vor allem der Illustration des Konzeptes dienen. Den avantgardistischen Aspekt kann man natürlich – genau so wie die anderen Teile – sehr unterschiedlich anlegen. Weil ich das Ganze gerne auch unterhaltsam sehe (also als „Kulitainment“) und es wunderbar finde, wenn Gerichte faszinieren, weil man auf eine sehr geschickte Art als Esser in sie „hineingezogen“ wird, schlage ich hier eine besonders amüsante Lösung vor, und zwar (immer noch beim Thema „Schwein“) einen „Flüssigen Schweinebraten“. Es gibt ein kleines Gläschen, in dem die Aromen von Schweinsbraten mit Sauerkraut und Knödeln in einer Flüssigkeit eingefangen sind – maximal mit ein paar sehr kleinen Einlagen und auf keinen Fall stark geliert oder sonstwie an eine Terrine erinnernd. Die Degustation muss so präzise sein, dass die Esser verblüfft sind und den Titel dieser Zubereitung problemlos nachvollziehen können. Technisch (was hier eigentlich nicht das Thema ist..) braucht man dazu Brühen der Elemente, die ein wenig davon abgehalten werden müssen, allzu schnell ineinander zu verlaufen. Das erreicht man mit einem leicht unterschiedlichen Gelieren bei zwei der drei Elemente.

Soweit ein paar Details zur Illustration des Konzeptes. Die Finesse der einzelnen Elemente lässt sich natürlich ganz individuell einstellen.

 

 

 

 

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