Vorbemerkung: Die Arbeit als Kritiker und Autor ist bei weitem nicht Alles, was mich beschäftigt. Ich habe mich immer als jemand verstanden, der sich mit der Kochkunst in allen Facetten befasst, also nicht nur auf der Basis dessen, was existiert, reflektiert und kritisiert, sondern natürlich auch bemerkt wo sich Defizite und Perspektiven zeigen. Das führt natürlich schnell auch zu einer ausgeweiteten praktischen Arbeit. Seit Jahren schreibe ich nicht nur Rezepte für meine Bücher, sondern entwickle auch Rezepte in ganz unterschiedlichen Sparten – manchmal für spezielle Projekte, grundsätzlich aber auch ohne die Frage, was ich denn eigentlich mit den Rezepten anfangen will (außer sie natürlich zu Hause zu entwickeln). Im Moment sind es etwa 4 bis 5 „Abteilungen“, in denen ich gleichzeitig arbeite. Unter den Konzepten und Rezepten sind auch immer solche, die über das hinausgehen, was man heute sinnvoll in einem Restaurant realisieren könnte. Ich forsche also sozusagen auch immer etwas um des Forschens willen, weil es mich einfach sehr interessiert. Welche Projekte ich gerade im Detail erarbeite, werde ich natürlich nicht vorab veröffentlichen, weil es immer auch darum geht, Bücher dazu zu schreiben.
Bei meinen Überlegungen ergeben sich also immer eine ganze Reihe von Perspektiven – von optimierten Klassikern und Brasserie-Gerichten bis hin zu ultramodernen Avantgarde-Ideen. Vor einiger Zeit stieß ich dann aber auf ein Thema, das ich hier einmal anreißen möchte, weil es von der Thematik und den Inhalten her gut für eine öffentliche Diskussion (und für den konstruktiven Aspekt dieser Text-Reihe) geeignet ist. Es geht um das, was man „State-of-the-Art“ nennt, also etwas, das – auf unser Fach bezogen – den Stand der Dinge in der avancierten Küche/der Kochkunst beschreibt. Im ersten Moment scheint es auf eine solche Frage schnelle Antworten geben zu können. Tatsächlich ist es viel komplizierter, und die Komplexität nimmt zu, je konkreter man zum Beispiel über Gerichte nachdenkt, die „State-of-the-Art“ sind. Ich muss zugeben, dass auch ich diesen Begriff manchmal – sagen wir: verkürzt benutzt habe. Das wird gleich schnell deutlich werden.
Annäherung an den Begriff: Was ist „State-of-the-Art“ und was nicht?
Der größte Fehler bei der Füllung des Begriffs ist seine enge oder ausschließliche Verknüpfung mit der Avantgarde. Obwohl ich sicher bin, dass man ein „State-of-the-.Art“ – Gericht, das diesen Namen wirklich verdient, ohne weiteres der Avantgarde zuschlagen kann, kann es nicht nur um eine Art Bestandsaufnahme des Modernen, des Aktuellen gehen.
Die Kochkunst besteht aus ganz verschiedenen Sparten, wozu nicht nur bestimmte Typen von Gerichten gehören, sondern auch Konzeptionen, die nicht allein kochtechnisch zu beschreiben sind. Was die Stilistik angeht, haben ganz verschiedene Küchen ihren „State-of-the-Art“. Die französisch fundierte Klassik zum Beispiel wird heute deutlich anders gedacht und präsentiert, als noch vor einigen Jahrzehnten. Bei vielen Extremgerichten aus der Kreativwerkstatt von Ferran Adrià wird man die Modernität auch heute noch anerkennen, obwohl viele Elemente dieser Küche im Moment kaum eine größere Relevanz haben. Die neue Regionalküche reicht von einer Art Interpretationen traditioneller Gerichte bis zu einer Art Erforschung neuer Ressourcen oder einer Wiederbelebung uralter Garmethoden wie sie in der Nova Regio – Küche häufig zu finden ist. Oder: man kann eine Küche konzipieren, die wesentlich stärker mit dem assoziativen Kontext arbeitet, also eine Küche, wie sie gerade im Moment von einigen unserer besten Köche angelegt wird, die stärker als je zuvor eine bessere „Lesbarkeit“ ihrer Kreationen im Visier haben, bei der sich die Gäste irgendwo wiederfinden können, sozusagen direkt angesprochen werden und dann auch die Optimierungen besser begreifen und genießen können.
State-of-the-Art betrifft nicht nur die Herstellung von Gerichten, sondern auch das „Spiel“ mit der Rezeption
Man hat sich rund um die Kochkunst angewöhnt, das „Kochen“ als Begriff auf die eigentliche Küchentätigkeit zu beschränken. Der gute Koch weiß viel von den Produkten, ihrer Vorbereitung, den Garzeiten, Aromatisierungen oder auch der sensorischen Struktur von Gerichten. Das Alles reicht aber nicht, um die wirklichen großen Gerichte zu realisieren. Es muss immer auch darum gehen zu überlegen, wie ein Gericht beim Gast wirken wird oder wirken kann. Dabei geht es nicht nur um Zustimmung oder Ablehnung (also sozusagen um den kommerziellen Aspekt), sondern um die psychologischen Wirkungen des Gerichtes: Was wird er sich bei diesem Gericht, bei diesem Geschmacksbild denken? Wird er auf wohlig stabilisierende Aromen treffen, die er mit Sicherheit kennt und in einer perfekten Form schätzen kann? Wird er überrascht sein, weil er so etwas noch nie gegessen hat, aber dann vermutlich zufrieden sein, weil es ihn geschmacklich überzeugt? Wird er entsetzt oder abgestoßen sein, weil er „so etwas“ bisher nicht für essbar gehalten hat? Man kann da eine Menge von Fragen stellen.
Das überragende „State-of-the-Art“ – Gericht kann nur eines sein, bei dem diese „andere Seite des Tellers“ in die Überlegungen einbezogen ist. Nur wenn die Einbeziehung der Rezeption genau so perfektioniert ist, wie das eigentliche Kochen, ergibt sich das ganz große Erlebnis von Kochkunst, ein State-of-the-Art – Erlebnis – wenn man so will. „State-of-the-Art“ ist in der Kochkunst also unbedingt auch, das Wissen, das wir von der Rezeption/der Wirkung von Essen haben, in die Konzeption eines Gerichtes einzubeziehen. Das – soviel ist sicher – beherrschen heute nur ganz wenige Köche und meist auch nur in Teilaspekten. Ist das der Fall, hat man dann manchmal das Gefühl, ein Koch ahnt, was man zu einer Zubereitung denken wird und „spielt“ absichtlich damit. Ich habe zum Beispiel einmal bei einem sehr modernen Gericht auf dem Teller einen größeren, dunklen Saucenpunkt von einigen Zentimetern Durchmesser gefunden, ich habe probiert und musste sofort schmunzeln, weil diese Sauce komplett klassisch schmeckte, wie eine ganz traditionelle Großmutter-Sauce. Sie passte sehr gut zu dem Gericht und lieferte über den assoziativen Kontext eine ganz spezielle Beziehung. Ich habe dem Koch diesen Eindruck mitgeteilt, und dann musste er schmunzeln, weil genau das seine Absicht war.
Die Elemente eines „State-of-the-Art” – Gerichtes
Und so stellt sich die Frage, was denn heute in einem „State-of-the-Art“ – Gericht vertreten sein müsste, so man denn – was ich für höchst interessant halte – Gerichte konzipieren möchte, die wirklich den Stand der Dinge repräsentieren. Um vorab einmal ein kleines Beispiel zu präsentieren, möchte ich an ein Wachtelgericht bei „Frentzén“ in Stockholm erinnern. Als ich es gegessen hatte, kam ich zu dem Schluß, dass ich hier – entgegen meiner Erwartungen – nach vielen Jahren, in denen ich alle möglichen Wachtelgerichte gegessen hatte, die ich manchmal durchaus für perfekt gehalten hatte, ausgerechnet in Stockholm das „beste Wachtelgericht ever“ bekommen hatte. Der Meister hatte es geschafft, das Beste aus zwei Welten zusammenzubringen, nämlich klassische Qualitäten nebst Trüffeleinsatz und eine hochkomplexe, ebenso traditionelle wie moderne Garweise für das Fleisch, die einen Geschmack erzeugte, der einfach sensationell gut und komplex war. Aber : das ist nur ein Detail, das bei einem State-of-the-Art – Gericht, wie man sich das vorstellen kann, eine von mehreren Rollen spielt. „State-of-the-Art“ – Gerichte könnten übrigens in sehr guten Küchen so etwas wie der Typus einer neuen Art von Hauptgericht werden. Ein solches Gericht hat als Mittelpunkt immer ein bestimmtes Produkt, das dann in unterschiedlichen Zubereitungen präsentiert wird, die jeweils einen der Aspekte abdecken. Auch wenn das Produkt in unterschiedlichen Formen vorkommt, ist es keine Variation im üblichen Sinne. Während man eine Variation mit vergleichsweise übersichtlichem Aufwand realisieren und etwa ein Produkt roh, kurz gegart, geschmort usw. zubereiten kann, ist das „State-of-the-Art“ – Gericht ein hochkomplexes, aufwändiges und selbst die besten Köche ausgesprochen forderndes Konzept, das an Einfallsreichtum und kochtechnischer Präzision allerhöchste Anforderungen stellt. Vor allem der konzeptionelle Teil der kreativen Arbeit wird sehr gefordert, nicht zuletzt deshalb, weil er ein hervorragendes Verständnis von Kochkunst braucht.
Als ich begann, über diese Art von Gerichten nachzudenken, stellte sich auch bei mir übrigens schnell heraus, wie komplex es ist, eine solche Idee zu füllen. Nach langen Überlegungen könnte der Kern ein Gericht sein, das die im Folgenden weiter erklärte 5 Teile beinhaltet. Wohlgemerkt: dies ist ein Vorschlag aus einem kreativen Prozess rund um die Frage, wie man die wichtigsten Aspekte dessen, was die Kochkunst heute besitzt und ausmacht, in einem Hauptgericht zusammenbringen kann.
Dazu in der nächsten Folge die Vorstellung und Diskussion der 5 Teile mit konkreten Beispielen.
hallo herr dollase, ich glaube nicht, dass die „modernität“ ferran adrias heutzutage noch irgendeine über seine historische relevanz hinausgehende bedeutung besitzt; vieles, was adria orginär entwickelt hat, ist mainstream geworden, anderes einfach wieder verschwunden; in der zeitgenössischen hochküche dürfte sein einfluss keine rolle mehr spielen. das ist übrigens ein aspekt , der leider ( noch?) nicht in Ihren betrachtungen auftaucht, mE aber grosse wichtigkeit besitzt: state of the art hat immer eine art ablaufdatum in sich, bleibt also nur solange referenzrahmen, bis es von jemand anderem oder etwas anderem abgelöst wird. konkret auf Ihr frantzen-beispiel bezogen-irgendwann kommt die „noch bessere“ wachtel! daher sollte man sich schon die frage stellen- macht ein zeitabhängiges phänomen wie state of the art sinn, referenzrahmen zu sein?
Ich finde Sie widersprechen sich da etwas.
Natürlich hat Adria noch großen Einfluss auf die zeitgenössische Hochküche, denn wie Sie ja richtig schreiben, ist vieles von ihm zum „Mainstream“ geworden und ist daher aus der zeitgenössischen Küche nicht mehr wegzudenken. Also ist der Einfluss natürlich noch da. Genau so wie der französische Einfluss in der Spitzenküche noch da ist.
Ja sicher. Die Füllung ist dann das Entscheidende, sie kann heute so und im nächsten Jahr anders sein, sie kann auch von Koch zu Koch deutlich anders ausfallen. In den 5 Punkten, die ich jetzt neu veröffentlicht habe, sollte das deutlich werden,
Gruß JD