SENSORIK I
Nach einigen Folgen „STILKRITIK“ ist es wieder einmal an der Zeit, das zu machen, was konstruktive Überlegungen in Gang setzen kann. Bei dieser neuen Reihe über die sensorische Struktur von Gerichten komme ich allerdings um einen – sagen wir: kritisch gefärbten Einstieg nicht herum. Also: Es gibt einen Punkt, der selbst bei den Gerichten der besten Restaurants regelmäßig zu Problemen führt. Wenn man eine Zahl nennen wollte, würde ich sagen, dass 9 von 10 Gerichten unter sensorischen Aspekten mehr oder weniger suboptimal angelegt sind. Um was es sich dabei im Detail handelt, werde ich gleich an einfachen, aber auch an einem ganz prominenten Beispiel erläutern. Viele dieser Gerichte sehen sehr gut aus, viele haben Elemente, die ganz ausgezeichnet schmecken. Und dennoch können die Fehler in der sensorischen Struktur dazu führen, dass sie bei weitem nicht so gut „rüberkommen“, wie sie eigentlich sind – oder, um es einmal mit Begriffen der Kommunikationswissenschaft auszudrücken – dass die Botschaft der Küche nicht entschlüsselt werden kann oder ihre Entschlüsselung so erschwert ist, dass ein ganz normal essender Gast sie einfach nicht mitbekommt.
Worum es geht
Die sensorische Struktur eines Gerichtes hat damit zu tun, wie sich – verkürzt formuliert – Akkorde oder zeitliche Verläufe oder auch eine Art von Räumlichkeiten in der Wahrnehmung bilden. Es geht um Texturen und Temperaturen, um Proportionen, um Überlagerungen im positiven wie im negativen Sinne bis hin zu Auslöschungen, die vollkommen kontraproduktiv sind. Es geht darum, was vom Koch bewusst oder unbewusst in diesem Sektor gemacht wird, aber auch darum, ob man das Alles als Gast auch so essen und bemerken kann, oder ob die Elemente eines Gerichtes so angeordnet sind, dass man sie eigentlich kaum sinnvoll essen kann.
Ein ganz einfaches Beispiel wäre etwa ein Carpaccio von Jakobsmuscheln, nach Ceviche-Art interessant aromatisiert, dann aber mit größeren Nussstückchen kombiniert. Beim Essen könnte das dazu führen, dass die Kombination von Nussstückchen und einer Scheibe Jakobsmuschel dazu führt, dass man nur die Textur der Nuss wahrnimmt, die sich beim Zerkauen langsam auflöst und dann ihr Aroma abgibt, die Jakobsmuschel gleichzeitig aber, ohne etwas anderes als einen minimalen Textureindruck zu hinterlassen, „verschwindet“. Typische Beispiele sind auch die berühmten „Türmchen“, bei denen man kaum einen guten Akkord bekommt, das Verhältnis von Panierung zu Fleisch oder auch Kombinationen mit Eis/Sorbets etc. bei denen die Kältewahrnehmung jede aromatische Wahrnehmung unterdrückt.
Ein prominentes Beispiel für eine Diskussion über die sensorische Struktur ist das berühmte Törtchen mit Rösti, Rindertatar, Crème fraîche und Kaviar von Helmut Thieltges, das auch sein Nachfolger Clemens Rambichler noch weiter im Programm hat. Es geht bei dieser Kombination natürlich um den Akkord, der – wenn er denn genau in den Proportionen getroffen wird, ganz hervorragend schmecken kann. Die Tarte von heute bei Clemens Rambichler hat einen vergleichsweise dünnen Rösti-Boden, eine dicke Tatar-Schicht, eine dünne Schicht Crème fraîche und eine wieder etwas dickere Schicht Kaviar obenauf.
Die Kombination ist jedenfalls ein ideales Diskussionsobjekt für das, was eine sensorische Struktur haben muss, oder auch dafür, was man alles beachten muss beziehungsweise suboptimal gestalten kann. Die möglichen Unterschiede im Akkord ergeben sich zudem nicht nur über die Proportionen, sondern erst einmal auch über die einzelnen Elemente und ihre Beschaffenheit. Sind die Röstnoten beim Rösti zu kräftig, wird es im Zusammenhang schwierig. Ist das Tatar zu würzig, kann auch das Probleme machen, weil zum Beispiel der Kaviar übertüncht wird, ist es zu wenig gewürzt, kann das Fleisch in diesem Zusammenhang zu einer reinen Textur degradiert werden. Zuviel Crème fraîche kann die Wahrnehmung vom Fleisch „verkleistern“, zu wenig Kaviar komplett untergehen, zu guter, so gut wie gar nicht gesalzener Kaviar kann die schlechtere Lösung für den Akkord gegenüber einem etwas würzigeren sein usw. usf. Man könnte buchstäblich stundenlang über die vielen Variablen diskutieren, die ein solches, scheinbar übersichtliches Gericht haben kann.
Bei Helmut Thieltges bekam ich irgendwann in den 00er Jahren da Gericht als rundes Törtchen, das mir suboptimal vorkam. Nach dem Essen haben wir uns bei jedem Besuch grundsätzlich zurückgezogen und gemeinsam diskutiert – natürlich nicht nur über sein Essen – , an einem Tag aber ganz besonders viel über die sensorische Struktur dieses Törtchens. Ich habe ihm die Probleme erläutert und er wirkte dabei sehr nachdenklich – auch deshalb, weil er bisher immer nur Lob für das Törtchen bekommen hatte und ich nun mit ganz anderen Aspekten kam, die allerdings eine weitere Optimierung versprachen. Bei meinem nächsten Besuch hatte er etwas geändert. Statt des runden Törtchens gab es eine Rolle Tatar auf einem dünnen, länglichen Röstistreifen, und auf dem Tatar-Röllchen einen „Faden“ Crème fraîche plus Kaviar obenauf. Während man bei dem „alten“ Törtchen sich irgendwie ein Stück von der Schnitte abschnitt und ich an Nebentischen gesehen habe, wie viele Gäste das Törtchen auch mehr oder weniger zerlegten und schon nach zwei Bissen eigentlich keine Möglichkeit mehr hatten, den Akkord in einer guten Proportion zu bekommen, legte die neue Rolle nun ganz klar nahe, sich jeweils eine Schnitte abzuschneiden. Und diese Schnitte erfüllte erst einmal eine ganz wichtige Voraussetzung für die Kommunikation von Koch zu Gast: sie lieferte genau jene Proportionen, die der Koch angelegt hatte. Man bekam den gewünschten Akkord sozusagen in einer unmißverständlichen Form. Unnötig zu sagen, dass Großmeister Thieltges die Rolle auch im aromatischen Detail in einen perfekten Zustand gebracht hatte und der Akkord sensationell gut war.
Dies ist nur ein einfaches, aber sehr klares Beispiel. Wenn man sich vorstellt, wie komplex manche Gerichte präsentiert werden, kann man sich denken, wie hochkomplex eine perfekte sensorische Struktur ist, und welch gigantisches Wissen sie beim Koch voraussetzt. Der Aspekt „sensorische Struktur“ ist eben in seiner detaillierten Form vergleichsweise neu und leider noch kein großes Thema in der Kochausbildung – obwohl die ausgeweitete Sensorik wahrscheinlich mindestens so wichtig wie Garungen und Co. ist.
Wenn Köche weniger an sich und die Bilder ihrer Gerichte denken würden, sondern mehr an die Esser, wäre das Problem viel kleiner.
Das Problem ist eines, das sich beim Essen eines Gerichtes einstellt – nicht unbedingt in der Küche bei der Zubereitung oder beim Probieren von Details. Die Bilderlastigkeit vieler Küchen führt zu Überlegungen, die oft komplett gegen eine gute sensorische Struktur gehen. Es kommt immer wieder vor, dass ich vor einem Gericht sitze und denken, dass der Koch sich unbedingt einmal exakt in meiner Lage befinden müsste, um zu erleben, was an seinem Gericht nicht stimmt oder suboptimal ist. Das beginnt schon mit klassisch „ausdekorierten“ Gerichten, bei denen ohne Sinn und Verstand irgendwelche Blättchen oder sonstige Dinge appliziert werden, und es endet bei vielteiligen Gerichten in Spitzenrestaurants, die ganz im Stil der Zeit prächtig aussehen, aber oft eine wenig sinnvolle Versammlung von Texturen und Temperaturen sind, die keinerlei wirkliche Struktur haben.
Es scheint oft nicht klar, ob Köche wissen, was eigentlich beim Esser ankommen soll. Wenn sie es wüssten, würden sie es nicht so machen – kann man sich da oft nur sagen. Ein berühmter Sommelier sagte mir einmal bei einem Galassen auf die Frage, warum er zu dieser curry-würzigen Sauce denn einen Wein einsetze, der unter der Last dieser Würze komplett in die Knie geht: „Ich kann nichts mehr daran machen. Es war alles abgesprochen, aber im letzten Moment hat der Chef dann noch reichlich Curry in die Sauce gemacht.“ Ein wichtiger Grund für diese sensorischen Fehler scheint mir ein grundsätzliches Mißverständnis von einer ausgeweiteten Sensorik zu sein. Bei vielen Köchen scheint in den letzten etwa 15 Jahren nur angekommen zu sein, dass man irgendwie verschiedene Texturen, Temperaturen, Rohes und Gegartes usw. usf. einsetzen müsse und dass dadurch die Gerichte vielfältiger und besser würden. Dass eine gute sensorische Struktur die ganz hohe Schule ist und nur von großen Könnern perfekt eingesetzt werden kann, scheint ihnen nicht bewußt zu sein. Außerdem sieht eine gute sensorische Struktur vielleicht vielfältig aus, ist aber in den Proportionen ganz anders, als die vielen Assemblagen, die man überall findet. Wenn man ein großes Stück Hauptprodukt mit einer Anzahl von sehr kleinen Elementen sieht, ist dies eher ein gutes Zeichen für eine gute Struktur als eine Reihe von gleichgroßen, spektakulär aussehenden Teilen, von denen man nicht weiß, was wozu gedacht ist.
Das große Paradoxon: die Komplexität vieler Gerichte berühmter Köche vergrößert das Problem. Die Simplizität, zum Beispiel vieler Nova Regio – Gerichte, verkleinert es
Und dann gibt es da auch noch dieses ganz spezielle Paradoxon. Die aufwändigen Gerichte vieler sehr guter Köche mögen eine wahre Fundgrube an Details sein, also die Anzahl der Variablen gewaltig erhöhen. Sie werden aber dabei schnell so zufällig und unstrukturiert, dass die eigentlichen Intentionen – etwa die trickreiche Begleitung eines Hauptproduktes – in den Hintergrund treten kann. Der Gast ist vielleicht beeindruckt von Fülle und Vielfalt, der kulinarische Sinn aber bleibt gering. Oder: man kocht für die Galerie, kommt aber oft nicht zur Sache bzw. schöpft wegen einer ungünstigen sensorischen Struktur das Potential einer vielleicht hochinteressanten Komposition nicht aus. Wenn man es genau nimmt, würde man sagen können: am Sinn der Kochkunst geht das oft ein gutes Stück vorbei.
Bizarrerweise haben viele der von guten Köchen oft geschmähten Nova Regio – Köche dieses Problem eher selten. Ein angerösttetes Palmkohlblatt mit einer Art Mayonnaise ist einfach sensorisch kein Problem, es ist eindeutig, man wird es nicht „falsch“ essen können, weil die Präsentation eindeutig ist. Das mag nicht nach viel Leistung aussehen, nicht nach großer Kochkunst und viel Arbeit in der Küche, passt aber eher zu dem, was der Mensch sinnvoll wahrnehmen kann. Das Dilemma ist dann oft, dass der an Überladenes aller Art orientierte Gast so etwas für keine adäquate Leistung hält… Die italienische Küche (und manch eine Regionalküche) hat übrigens sehr häufig diese sensorischen Probleme ebenfalls nicht so ausgeprägt.
Soweit diese erste Folge, die nur andeuten kann, wohin die Reise geht und wie komplex eine gute sensorische Struktur ist. Ich werde hier in den nächsten Folgen ein ganzes Stück in die Tiefen der sensorischen Struktur gehen.