Vor ein paar Tagen habe ich wieder einmal einen Blick auf die Top 100 der Bücher zu „Kochen und Genießen“ bei Amazon geworfen und war entsetzt. Mehr als zwei Drittel der Bücher befassen sich mit allen möglichen gesundheitlichen Aspekten, mit Diäten, mit Fasten, mit dem „Neuanfang mit Ayurveda“, „wie man von Zucker loskommt“ oder „auf Knopfdruck“ abnimmt. Von Genießen keine Spur, also zum Beispiel auch kein Buch mit dem Titel „Ich genieße, also bin ich“. Ist das ganze Land in einen Ernährungswahn verstrickt, der „normales“ Essen (so es das in diesen Landen überhaupt noch gibt) immer als Gefährdung ansieht? Der Essen nur noch als Trickserei benutzt, um ein bestimmtes Schönheitsideal zu verwirklichen oder eine „Gesundheit“ zu realisieren, die vor allem den gesunden Körper verspricht, den genießenden Geist dabei aber irgendwo auf der Strecke lässt? Ich kenne alte Damen um die 90, die ihr ganzes Leben lang fettig und zuckrig gegessen haben. Sie sind glücklich, gut in Form und haben Freude an gutem Essen. Täuscht der Eindruck, oder läuft bei uns in Deutschland schon wieder kulinarisch alles mögliche aus dem Ruder?
Ich habe einmal drei Punkte zur Diskussion herausgegriffen und in der gebotenen Kürze zusammengefasst.
Es waren einmal der Nachkriegshunger, die Nouvelle Cuisine und eine Entwicklung, die einfach keine Basis bekommen hat
Erinnern wir uns. Im Nachkriegsdeutschland entstanden viele Bilder von Bundesbürgern, die nach langen Entbehrungen jetzt endlich wieder einmal richtig zulangen konnten. In den 50er und 60er Jahren entwickelte sich das „Komaessen“, eine Erscheinung, die sich bis heute bei uns hartnäckig hält. Man isst (oder bestellt im Restaurant) ein einzelnes Gericht, das sehr groß ist und weit mehr Kalorien liefert, als man eigentlich braucht. Man isst aber nicht, was man braucht, sondern „bis zum Anschlag“, also bis es nicht mehr geht – wie beim „Komasaufen“ eben. Vor diesem Hintergrund wirkten die Menüs anderer Länder, die dort vorhandene, offensichtliche Kenntnis und Begeisterung für vielfältiges und oft gutes und teures Essen wie ein Ausbund an kulinarischer Kultur.
Die Anstrengungen, so etwas auch bei uns zu realisieren, waren verständlich. Mit der Nouvelle Cuisine und der Entwicklung ganzer frankophiler Schichten in Deutschland änderte sich das Bild deutlich. Es begann ein kräftiger Aufschwung und es entwickelte sich – zumindest teilweise – ein anderes Bewusstsein für kulinarische Qualität und die dazu gehörenden kulturellen Zusammenhänge. „Essen wie Gott in Deutschland“ (ZDF, 1987 ff) war ein früher Höhepunkt der Popularität der neuen Bewegung. Es ging weiter bergauf, mit immer mehr Sternerestaurants und – vor allem seit Beginn der 2000er Jahre mit einer rapiden kreativen Entwicklung der Kochkunst, die sich allerdings zügig von der Tauglichkeit für größere Bevölkerungsgruppen entfernte. Eine „gesunde“ Pyramide mit einem breiten Interesse für eine gut gemachte bürgerliche Küche als Basis und den logisch darauf aufbauenden avancierteren Küchen kam einfach nicht zustande. Heute kann man sagen, dass in Deutschland nach wie vor eine wirklich stabile, selbstverständliche kulinarische Basis mit einem guten Verhältnis zu Genuß und kulinarischer Qualität fehlt. Darüber kann auch der Aktionismus in vielen TV-Sendungen und anderen Medien nicht hinwegtäuschen.
Die Suche nach funktioneller Ernährung wird nicht zu guten Produkten und gutem Essen führen, sondern zur künstlichen Ernährung
Weil sich bei uns kein weit verbreitetes Verständnis von kulinarischer Qualität (im weitesten Sinne) entwickelt hat, entstanden wieder „freie Räume“ in denen sich vielerlei andere Interessen breit gemacht haben, die im Grunde kulinarisch kontraproduktiv arbeiten. Eine Bio-Bewegung, die es bei einer – wie auch immer definierten – Bio-Produktion belässt, aber zu wenig Perspektiven für ein genussreiches Leben entwickelt oder die Vorstellung von Genuss deckelt, wenn er „zu teuer“ wird, hat keine Perspektiven für eine große kulturelle Wirkung. Eine Politik, die die Ernährung vor allem unter den primär technischen Aspekten einer gesundheitlichen Gefährdung sieht, hat keine Visionen für positive Perspektiven und greift viel zu kurz. Visuelle Medien, die vor allem den Unterhaltungswert der Bilder vom Kochen in den Mittelpunkt rücken und ein Journalismus, der sich quasi weigert, kulinarische Themen in den Mittelpunkt einer klassisch-serösen Beschäftigung zu stellen, leisten einer kompletten Irreführung über das Vorschub, was kulinarische Qualität und Genuß sind und was sie in der Gesellschaft bewirken können. Am bizarrsten wird sich die Suche nach funktionalen Aspekten von Ernährung auswirken. In letzter Konsequenz bleibt denen, die Essen wie ein Medikament einsetzen wollen, nur noch der Weg ins Künstliche, hin zu einer Plastik-Ernährung, die von allen „natürlichen“ Risiken befreit ist, aber ein langes Leben in Schönheit verspricht, ein Essen für die Hülle, nicht für den Geist und die Seele.
Der Trend zu „casual fine dining“ oder anderen Formaten nahe am Gast hat jetzt schon eine gefährliche Schieflage
Aber auch da, wo man scheinbar nahe am Genuß und dem genießenden Menschen arbeitet, droht Verhängnisvolles. Die auseinanderlaufenden Entwicklungen von kreativer Spitzenküche und dem, was viele Menschen sich von einem guten Essen wünschen, haben in der letzten Zeit scheinbar zu „vernünftigen“ Lösungen geführt. Ehemalige Spitzenrestaurants wie Neugründungen bieten „Casual Fine Dining“ an, worunter in der Regel eine nicht mehr so starr an feststehende Menüs und vor allem nicht mehr so stark an allerlei Formalitäten der „alten“ Spitzenküche gebundene Gastronomie verstanden wird. Der Gedanke, „näher am Publikum“ zu arbeiten findet sich aber auch und sehr verbreitet in Restaurants, die auf diesen Trend nur aufsatteln.
So verständlich diese in erster Linie gastronomische Wende auch sein mag, so wenig wird sie in der Praxis kulinarisch gefüllt. Natürlich gibt es die wirklich guten Köche, die für eine solche „mittlere“ Gastronomie wie geschaffen sind und manchmal so wirken, als sei dies genau das, was sie immer machen wollten. Realität sind aber eher Unmengen von Köchen und Restaurants, die Entspanntes, Vereinfachtes, Identifizierbares usw. behaupten, tatsächlich aber nur eine eher schwache Küche produzieren. Eine wirklich gute, aber vereinfachte Küche von brillanter, aber gleichzeitig kostengünstiger und allgemeinverständlicher Machart gibt es quasi nirgendwo. Das verwundert auch nicht weiter, weil es in der herkömmliche Spitzenküche quasi keine Vorbilder für solche Gerichte gibt. Und so droht jetzt schon eine verhängnisvolle Entwicklung: unter dem Mantel des Trends zu einer verständlicheren, nicht so abgehobenen Küche zu moderaten Preisen zeigt sich eine Erosion von Qualität, die in dieser Form vielen Gesetzen der Kochkunst komplett entgegensteht. Und wieder findet man das, was man gerade zu überwinden glaubte, nämlich die oberflächlich-banale Bedienung von modischen Neuigkeiten. In vielen Fällen gibt es heute schon wieder „des Kaisers neue Kleider“ – genau so, wie seinerzeit bei der Molekularküche, zum Beispiel. Die Realisierung einer wirklich guten Qualität ist und bleibt eine schwierige Angelegenheit – egal zu welchem Preis und in welcher Art von Küche.
Liebe Ulrike Thyll, ja, für Süddeutschland und Österreich etc. kann man schon mal einen anderen Eindruck gewinnen. Aber auch dort geht man bei Aktualisierungen und Verbesserungsversuchen schnell mal ein Stück zu weit, nähert sich eher kulinarischen Moden als eine Optimierung zu suchen, die wirklich trägt und kommunikationsfähig ist, also verstanden werden kann. Ich habe immer wieder erlebt, dass auch Leute, die normalerweise eine ehr schwache bürgerliche Küche essen, eine deutliche Verbesserung der Produktqualität, der Garzeiten und der sensorischen Struktur/der Proportionen sofort erkennen. Sie haben das dann einfach noch nie so gut gegessen. Und da fehlen nach wie vor die ganz grandiosen, Maßstäbe setzenden Beispiele. Wer als Profi richtig gut kochen kann, geht in Richtung Spitzenküche und interessiert sich nicht mehr für die „einfachen“ Dinge. Dieser Zusammenhang ist so total, dass man für die Verbesserungen, die ich meine kaum jemals ein Vorbild findet.
Ich habe den Eindruck, dass in Süddeutschland und Österreich diese solide Küche, die den Genuss und gute Produkte in den Vordergrund stellt, durchaus immer existiert hat. Man kann dieser Küche allenfalls vorwerfen, dass sie sich in vielen Fällen nicht weiter entwickelt hat. Ich hatte das Glück, in einem Haushalt aufzuwachsen, in dem täglich frisch gekocht wurde und ständig nach dem besten Brot, den wohlschmeckenden Eiern, gutem Fleisch etc. gesucht wurde. Eine der beiden Erfahrungen reicht meines Erachtens aus, um die Suche nach Qualität nie mehr aufzugeben. Ich bin dankbar, dass ich so viel Glück hatte. Es ist dies die Grundlage für das Erkennen jeder kulinarischen Weiterentwicklung, schützt vor Moden, schärft den Blick für Schaumschlägerei und hilft, wirkliche Fortschritte zu erkennen. Es gibt gute neue Kochbücher genauso wie gute Restaurants in unterschiedlichen Kategorien. Ich bin da nicht so skeptisch wie Sie. Man muss einfach in Rechnung stellen, dass das Bemühen um den wohlgestylten Körper in unserer Kultur enorm dominiert und der natürliche Gegenspieler des Genusses ist. Wer sich davon tyrannisieren lässt, dem ist eben nicht zu helfen.