Hier der Anfang eines Textes, den ich im Jahre 2006 in meiner FAZ-Feuilleton-Serie „Geschmackssache“ veröffenlicht habe:
„Es gibt sie noch, die ganz großen Karrieren von Kochtalenten, die sich in kürzester Zeit und ohne großartige Lobby in die Spitze des Faches kochen. Viki Geunes vom Restaurant „‘t Zilte“ aus Mol in Belgien (etwas nördlich der Autobahn Hasselt-Antwerpen) tauchte im dortigen Gault Millau erst vor drei Jahren mit einer Note von fünfzehn Punkten auf. Soeben hat man ihm achtzehn zugeteilt und selbst diese Bewertung – vor allem aber der irreal karge, eine Michelinstern – könnte noch höher ausfallen, ohne dass man Grund zur Beschwerde hätte. Der vierunddreißigjährige, fast asketisch wirkende Autodidakt hat in jüngster Zeit mit seinem Menü „Smaaktendens“ Aufsehen erregt, dass er als eine „Entdeckungsreise durch die zeitgenössischen Aromen und Kochtrends“ versteht. Das Besondere daran ist, dass Geunes nicht etwa aktuelle kochtechnische Entwicklungen aneinanderreiht, sondern ein außergewöhnlich tiefes Verständnis von kulinarischen Zusammenhängen erkennen lässt. Und vor 2006 strukturalistisches Küchenverständnis par excellence, bei dem eine völlig selbstverständliche handwerkliche Maitrise mit einem hervorragenden Denken in Proportionen und Beziehungen sichtbar wird. Und weil er auch im aromatischen Sektor individuelle Wege geht, ist Geunes eben nicht eine Mischung aus Martin Berasategui, Pieter Goossens und Sergio Herman, sondern durchaus schon eine eigene Macht in diesem Umfeld. Das alles ist ziemlich starker Tobak für ein aufstrebendes Talent, aber die Küche hat eben ihre Realität im Teller, der vor dem Gast steht und nicht in der aufgeblasenen Erscheinung von „Instanzen“ mit mehreren Kochmützen übereinander – sozusagen.“
Nun hat Viki Geunes endlich seinen dritten Michelinstern bekommen, und das war längst überfällig. Ich habe ihn schon vor dem FAZ-Text von 2006 zum ersten Mal in Mol besucht und war vom ersten Amuse Bouche bis zum letzten Dessert komplett überrascht, weil sich hier ein Stil zeigte, der damals sehr neuartig wirkte, ohne freilich mit irgendwelchen Effekten zu arbeiten. Vielleicht hat man ihn deshalb noch nicht gleich zu Beginn gut genug verstanden. Das auffälligste Merkmal seiner Küche ist eine Art von japanischem Produktdenken, ohne dass er auffällig mit japanischen Aromen arbeiten würde. Im Detail bedeutet das, dass er auf das direkte Zusammenwirken von Elementen vertraut, die er mehr oder weniger puristisch einsetzt und keineswegs mit größeren Mengen von Cremes, Saucen oder Flüssigkeiten begleitet. Voraussetzung dafür sind nicht nur makellose Produkte, sondern vor allem auch eine makellose, höchst sensible Produktbehandlung, Schneidetechniken und Vorbereitungstechniken, wie wir sie üblicherweise aus Japan, nicht aber aus der klassisch-französischen Küche her kennen. Und weil es nicht so viele prägende Saucen und Gewürze gibt, hat diese Küche auch kein plakatives Geschmacksbild „overall“ – wie etwa Küchen, die stark von Fetten oder auch von Miso, Dashi und Co. geprägt sind. Was sie immer braucht und hat, ist eine große Vielfalt von Ideen. Das Spektrum von Produkten, die in den Menüs von Geunes zu finden sind, ist riesig. Bis heute findet man in seinen Menüs kaum jemals ein Produkt zweimal.
Viki Geunes, ein paar Details
Auch in „Port Culinaire“ haben wir Viki Geunes früh auf dem Schirm der „Avantgarde“- Serie gehabt. Im Jahr 2011 erschien ein großer Text mit einem kompletten Menü (sie finden ihn in Heft 18), damals schon in seiner neuen, spektakulären Location im Hafen von Antwerpen. Hier ein zweites Zitat, das sich auf seinen Stil bezieht:
„Ich habe schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass die strukturalistische Küche, also das neue, ganz wesentlich auch handwerkliche Verständnis von Kochkunst, nicht unbedingt etwas für Anfänger ist, sondern sehr gut ausgebildete, mitdenkende und kreative Köche braucht. Diese Spitzenköche sind heute in eine faszinierende Phase eingetreten. Es gelingt ihnen gerade, aus den Traditionen und den Innovationen eine neue Küche zusammenzufügen, die alles hat, was man je von einer guten Küche behaupten konnte, und darüber hinaus noch eine ganze Menge mehr. Es passiert also gerade etwas, womit die manchmal so erstaunlich aggressiven Koch-Ideologen der alten Art einfach nie gerechnet haben. Die Dinge fügen sich prächtig zusammen und ergeben eine faszinierende Küche, die ganz auf der Höhe der Zeit ist.“
Geunes präsentierte zum Beispiel folgende Gerichte, die damals wie heute für seinen Stil typisch sind, aber erst heute die Anerkennung finden, die sie schon lange verdient haben:
„Makrele, à la minute gesalzen – Frischkäse“: Plastizität der Aromen
Salzen im letzten Moment ergibt eine komplett andere sensorische Funktion als den Einsatz von Salz um einen anderen Geschmack zu „verstärken“. Weitere Elemente sind ein Stück Hummer, eine Frischkäse-Creme, Frischkäse-Pulver, Daikon-Rettich, Daikon-Kresse, eine Vinaigrette mit eingelegten Holunderblüten und Radieschen
„Algen – Muscheln – Kopsalat“: Eine serielle Degustation
Eine serielle Degustation, also eine Präsentationsform, bei der man am besten an einem Ende einer Reihe von Elementen beginnt und sich weiter „vorarbeitet“ kann eine höchst interessante Sache sein. Man bekommt auf diese Weise ständig wechselnde Akkorde und wird in eine ganz spezifische Aufmerksamkeit gebracht. Wichtig bei solchen Reihen sind die Längen der jeweiligen Elemente. Sie bestimmen, wie die einzelnen Bissen ineinander übergehen, sich überlappen, sich verstärken und beeinflussen. Geunes beherrscht diese avancierte Technik perfekt.
„Langustine royale – Kalbskopf – Spargel“: Präzision als kreatives Element
Obwohl die Elemente dieses Gerichtes nicht unbedingt überraschend sind, wirkt der Akkord dennoch neuartig und überraschend. Grund ist ein so präzises Gefühl für Proportionen, dass sich neue Zusammenhänge ergeben. Die Langustine ist zum Beispiel an einem Ende kräftig angeröstet und am anderen quasi roh. Oder: es gibt einen Wechselakkord mit einem zweiten Teller, der den ersten völlig neu interpretiert. Das alles kann nur funktionieren, wenn eine Komposition komplett durchdacht und immer wieder probiert wird. Und trotzdem isst sich das Alles ganz entspannt.
„Shirasu – Aal – Kalbsbries“: Die Psychologie einer populären Avantgarde-Küche
Hier kombiniert Geunes Klassisches mit Modernem und tut dies so, dass es einfach „lecker“ schmeckt. Die Gäste werden also einerseits in ihren Vorlieben angeholt, weil es ihnen gut schmeckt, andererseits werden sie auf diese Weise an Veränderungen geführt, die sie als angenehm und als Bereicherung erfahren. Geunes „verkauft“ seine Ideen ganz prächtig und schafft sich damit auch selber eine gute Ausgangsbasis für eine ständige Erweiterung der Küche. Die japanische Inspiration mit den jungen Glasaalen („Shirasu“ ist der Begriff für kleine Fische) und einigen japanischen Aromen führt zu einem Geschmacksbild, das man definitiv eher als europäisch empfindet. Er integriert also und bedient sich nicht wahllos aus dem großen Malkasten internationaler Aromen.
„Dry aged beef – Zwiebel – Ochsenschwanz”: Individualisierte Klassik
Nein, es gab hier keine Klischees, sondern eher ein Gericht, bei dem Geunes ganz genau analysiert hat, was diese klassische Kombination an Schwächen haben kann und wie man sie über viel Präzision und die richtigen Änderungen in einen sensationellen Wohlgeschmack transformiert. Von einer Sauce Bearnaise gibt es quasi nur den Estragon als Zitat, vom Ochsenschwanz ein Beignet, von den Zwiebeln, die so vernichtend wirken können, gibt es einen Zwiebelpudding, der das Fleisch in genau der richtigen Zwiebelgeschmack-Dosierung feinstens einhüllt. Auch die diversen Mikroelemente haben eine klare Funktion. Im Zusammenhang mit dem Fleisch hat man erst einmal ein paar kleine Aromen und Texturen, bevor dann das Fleisch mit diesem Hintergrund aromatisch “aufblendet“.
Viki Geunes war vor seiner Zeit als Koch auf einer Ingenieurschule und wollte Akustik-Ingenieur werden. Das systematische Durchdenken seiner Arbeit hat ihm schnell einen Entwicklungssprung gebracht. „Kochen beginnt im Kopf“, hat er einmal gesagt, und dass „alles bei einem guten Gericht aufeinander bezogen werden muss“. „Handwerk 2.0“ habe ich das einmal genannt. Solche Küchen können viel mehr Glanz bekommen als ein „spontanes“ Kochen „aus der hohlen Hand“ oder „dem Magen“, wo sich allzu oft Zufälle mit Unfällen verbinden – sozusagen. Präzision bringt Freiheit. Das mag manchmal schwer zu verstehen sein, ist in der Küche aber ein echtes Dogma.