Marina Ginkel und Dirk Schritt haben das gemacht, was sich vermutlich eine ganze Menge von Foodies mehr oder weniger heimlich wünschen. Sie haben sich sozusagen aus ihren Jobs in der Frankfurter Business-Welt ausgeklinkt, ihr Hobby zum Beruf gemacht und ein kleines Café gegründet. Und weil das Geld erst einmal nicht für ein Etablissement in der Innenstadt ausreichte, haben sie mit einem kleinen Lokal im Weinort Geisenheim begonnen. Das war im Jahre 2015. Mittlerweile ist das vegane Café zu einem Restaurant geworden und deutlich größer, aber immer noch ohne jeden Pomp und ausgesprochen entspannt. Man hat von morgens bis abends geöffnet, liefert von Kleinigkeiten bis zu Menüs das ganze Programm und wird vom – deutlich jüngeren und oft weiblichen – Publikum gerne auch zu längeren Aufenthalten mit Gesprächen und Computer genutzt.
Die kulinarische Entwicklung von Dirk Schritt (der die herzhafte Küche verantwortet) und Marina Ginkel (die den süßen Teil betreut) hat also „ganz unten“ begonnen, im Grunde mit Kuchen und Snacks und vor allem Standards. Im Laufe der Jahre sind diese einfachen Gerichte nicht verschwunden, wurden aber um Gerichte ergänzt, die schon deutlich in Richtung feiner Küche gehen. Und so sitzen dann manchmal Gäste mit Smoothies in tiefen Sesseln neben anderen an Tischen, die sich ein Menü bestellt haben. Und weil vegane Küche und Wein ja keinerlei Problem sind, gibt es hier im Rheingau auch eine für ein veganes Restaurant außergewöhnlich gute Weinauswahl. Nun haben die beiden ihr erstes Buch veröffentlicht und gleich über 100 Rezepte zusammenbekommen, was vor allem daran liegt, dass Dirk Schritt irgendwie in der verfeinerten Abteilung Fuss gefasst hat und vor Ideen nur so sprüht.
Das Buch
Weil man in der veganen Küche besonders stark von den Produkten der Saison abhängig ist, ist das Buch nach Blöcken von jeweils zwei Monaten gegliedert, und das in ziemlich präzise gleichen Umfängen. Die Gerichte werden meist auf jeweils zwei Seiten behandelt, eine Seite Foto, eine Seite Beschreibung. Diese Beschreibungen sind sehr professionell und sinnvoll gestaltet. Es beginnt mit einer Einleitung und Angaben über das Entstehen des jeweiligen Gerichtes oder anderer Besonderheiten. Den Abschluss bildet oft ein Kasten mit einem Tipp und bisweilen ein weiterer mit einer zusätzlichen Info. Dabei fällt schnell auf, dass die gute Qualität der „22“-Küche ihre Gründe in sorgfältigen Rezepten hat, die durchaus auch einmal einen gewissen Umfang annehmen. Mini-Rezepte gibt es, sie sind aber eher in der Unterzahl. Nicht umsonst verzichtet man auf einen reißerischen Titel, der irgendwelche Wundertaten in wenigen Sekunden verspricht, sondern bleibt ganz cool und ohne Einschränkungen auf Kurs.
Hier einige Beispiele. „Geschmorter Topinambur mit Bayrisch Kraut und Karottenpüree“, „Rundkorn-Naturreis mit Schwarzkohl, Kürbis und Shiitake-Pilzen in Teriyaki-Sauce“ (Jan./Feb.). „Selleriegyros mit gebackenen Kartoffelwürfeln, Krautsalat und Zaziki“ (März/April). BBQ-Blumenkohl mit Grünkern, Salbei-‚Butter‘ und konfierten Zwiebeln auf Erbsenpüree“, „Geflämmter Spitzkohl mit gebackenem Wurzelgemüse und Senf-Karamell-Sauce auf Spinatpüree“ (Mai/Juni). „Weisse Bohnen-Cassoulet mit Rosmarin-Focaccia“, „‘Cheese‘-Cake“, „Pfirsichragout mit Popcorn auf Joghurtcreme“ (Juli/Aug.). „Kartoffel-Pfanne mit Lupinentempeh, Grünkohl und Biersauce“ (Sep./Okt). „Trüffel-Steinpilz-Ravioli in Selleriesud“, „Wirsingroulade auf Steckrübenpüree mit Rotweinsauce“ (Nov./Dez.).
Technisch ist die Arbeit naturgemäß etwas übersichtlicher und eher nachkochbar als bei manchen nicht-veganen Gerichten, bei denen zum Beispiel komplexe Gartechniken eher eine Rolle spielen. Neben den genannten Gerichten gibt es natürlich auch immer wieder Klassiker der veganen Küche, darunter aber auffällig wenig Versuche, Fleischgeschmack nachzuahmen (wie das vor allem die Industrie bei ihren veganen Fertiggerichten etc. macht). Auch der Hamburger ist „echt“ veggie und kein Versuch, dem Fleisch-Burger so nahe wie möglich zu kommen. Die Klassiker sind oft ein wenig einfacher in der Struktur, die anderen Gerichte zeigen dafür eher auf, wie sich Dirk Schritt langsam aber sicher auch einer entwickelten Spitzenküche nähert, ohne dabei freilich in irgendwelche optischen oder geschmacklichen Dekorationen abzudriften. Hier steht der Geschmack immer im Vordergrund, und dieser Geschmack ist mild und differenziert. Es wird also auch nicht versucht, mit viel Gewürzen und etwa Zwiebeln Dinge unnötig aromatisch zu dopen.
Fazit
Auch wenn die Beiden vom „22“ erst in letzter Zeit verstärkt in den Blickwinkel der Öffentlichkeit kommen, darf man nicht übersehen, dass hier seit Jahren konsequent nach vorne gearbeitet wird. „Vegan“ bedeutet hier immer auch eine entspannte Gastronomie, bei der das Essen unstressig und die Formalitäten leger gehandhabt werden. Entstanden ist in diesem Umfeld ein Buch, das diese Spannweite hat, also einerseits nützlich, andererseits sehr anregend ist und in den Spitzen klar macht, dass hier eine interessante vegane Küche mit einem klaren Profil entstanden ist und weiter wächst.
Dieses natürlich auch für Nicht-Veganer empfehlenswerte Buch bekommt 2 grüne BB
Fotos © Andreas Hantschke für Tre Torri