Im Zusammenhang mit meinem Charles-Schumann-Interview in der letzten Woche gab es viel Rückmeldungen, darunter auch solche, die stark auf die Schlusspassage reagiert haben. Hier noch einmal die letzten Sätze:
JD: Du magst wahrscheinlich auch diese eine ARTE-Serie über japanische Handwerker und ihre Arbeit?
CS: Ja natürlich, davon gibt’s ja sehr viele Folgen. Ich könnte den ganzen Tag dasitzen und zuschauen
JD: Ich liebe die Passion, ich liebe es irgendwie, dass es Leute gibt, die nur Reis herstellen, das absolut perfekt machen und gar nichts anderes machen wollen.
CS: So etwas möchte ich am Ende meines Lebens machen. Ohne Passion ist doch alles nichts wert.
Mir hat der letzte Satz besonders gut gefallen – auch wenn ich nicht unbedingt dazu neige, über das nachzudenken, was man am Ende seines Lebens macht. Auch bei Charles Schumann muss man das nicht allzu schwermütig verstehen, sondern im Zusammenhang damit sehen, dass er gerne noch etwas Neues machen würde und dabei dann solche, in einem langen Leben mit viel Arbeit entstandenen Überlegungen eine wichtige Rolle spielen. Ich habe immer wieder über diesen Punkt nachgedacht und dann erst einmal wieder zu einem Buch gegriffen, dass mich in diesem Zusammenhang enorm beeindruckt hat. Ich habe es hier am 11.3. 2021 rezensiert. Der Titel ist:
Andrea Fazzari: Sushi Shokunin. Japan‘s Culinary Masters. Assouline Publishers, New York 2020
Die Bilder zu diesem Text stammen aus diesem Buch. Es handelt sich um ein Buch über die besten japanischen Sushi-Meister, in dem es viele Bilder von Sushi, keinerlei Rezepte und sehr viel sehr atmosphärische Bilder der Sushi-Meister selber gibt. Das Buch gehört seit einiger Zeit zu meinen Lieblingsbüchern – u.a. weil es auch zu einem kulinarischen Konzept passt, an dem ich schon seit einiger Zeit arbeite. Die Ausstrahlung der sehr sensibel zusammengestellten Bilder ist sensationell gut. Man sieht die Meister zum Beispiel auch in ihrem privaten oder familiären Umfeld, dann aber vor allem mit ihrer Berufskleidung und an ihren Arbeitsplätzen, den legendär kahl und puristisch gestalteten, kleinen Sushi-Restaurants, in denen sie versuchen, ein absolutes Maximum an Qualität zu erreichen. Man sieht die Passion, man sieht eigentlich, wie sie sich an ihrem Arbeitsplatz in andere Wesen verwandeln, die die Aufgabe haben, die besten Produkte der Natur in einem möglichst optimiert-natürlichen und möglichst konzentrierten Zustand ihren Gästen zu präsentieren. Man kann in diesem Buch stundenlang blättern und sich der Ausstrahlung als kulinarisch sensibilisierter und konzentrierter Mensch nicht entziehen.
Purismus hat eine ganz eigene Faszination
Es ist ein Teil der Faszination von puristischen Zubereitungen, dass sie oft exzellent schmecken, obwohl scheinbar nicht viel mit ihnen angestellt wurde. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein kleines Gericht von Joel Robuchon in seinem „Atelier“ in Paris (ca. 2005), das zum damaligen Zeitpunkt eine ungeheure Wirkung hatte. Es gab ein Lammkotelett als Gericht, das nur aus Lammkotelett, Jus und einem Thymianzweiglein bestand, und dabei offensichtlich nicht aus einem Rack geschnitten war, sondern rundum präzise gebräunt war. Es schmeckte unglaublich gut – was wegen der Proportionen von Röstnoten und Fleisch auch sofort verständlich war. Jeder Koch weiß, dass so etwas nicht einfach zu machen ist, sondern viel Präzision braucht.
Es wird heute viel von Purismus geredet, meist aber sehr ungenau. Man kann Purismus zum Beispiel nicht als existent behaupten, weil er immer nur ein Weg ohne definierbares Ziel ist. Wer behauptet, er wüsste, was für ein bestimmtes Produkt eine puristisch-optimale Lösung sei, hat schon verloren. Purismus ist die dauernde Suche nach Optimierung eines Produktes, er ist nicht die Suche nach „weniger ist mehr“, sondern die Suche nach Perfektion in dem klaren Bewußtsein, sie nicht erreichen zu können, sondern ihr immer nur nahe zu kommen. Wir wissen schließlich nie, wie weit wir mit unserer Wahrnehmung kommen können…Es geht auch nicht darum, nichts mehr weglassen zu können. Es geht vielmehr darum, den Punkt zu erreichen, bei dem weitere Zutaten – und seien sie noch so gut – keinerlei Gewinn bringen.
Der Blick selbst auf hervorragende Gerichte unserer besten Köche ist von Streben nach puristischer Perfektion oft weit entfernt. Da mag eine Komposition zusammen hervorragend schmecken: ihre einzelnen Teile sind oft längst nicht so tragend, dass sie für sich stehen könnten. Insofern stellt sich eine ganz merkwürdige Frage:
Steht Purismus im Widerspruch zur elaborierten Kochkunst oder ist er dessen Vollendung?
Es ist nicht sicher, dass man diese Frage wirklich beantworten kann. Man könnte einwenden, dass ein perfekter, einzelner Stein doch niemals die Qualität einer ganzen Architektur haben kann. Und ist nicht Kochkunst die Fähigkeit, nicht nur verschiedene Produkte in einen guten Zustand zu bringen, sondern dann aus ihnen ein geschmackliches Ergebnis zu schaffen, das es nur so und nur in dieser Form der Erarbeitung geben kann? Und lebt nicht ein großer Teil der Kochkunst exakt davon, dass man aus nicht unbedingt hoch perfekten Produkten sondern eher ganz normalen Produkten etwas schafft, das selbst im täglichen Essen Vergnügen und Genuss bereitet? So gesehen wäre dann die Idee des Purismus nicht unbedingt die Vollendung der Kochkunst, sondern eher etwas, das einen traditionellen, funktionalen Zusammenhang verlässt.
Aber – da ist der andere Weg der Kochkunst, der Weg, der das Prinzip im Auge hat, der erkannt hat, dass es den Weg zur Vollendung gibt und dass es faszinierend ist, ihn zu beschreiten. Die japanischen Sushi-Meister im Buch erwecken nicht nur den Eindruck, als ob sie ihrer Arbeit konzentriert nachgehen. Sie wirken so, als ob das, was sie leisten wollen, nur dann möglich ist, wenn sie zu jeder Sekunde die richtigen Handgriffe tun, die richtigen Zeiten, Temperaturen, Proportionen treffen, als ob sie wirklich zu 100 Prozent fokussiert sein müssen, um das Beste zu erreichen, zu dem sie fähig sind. Ein mitteleuropäisch trainierter Koch, der zwischen diversen Telefonaten am Pass steht und vor allem die korrekte Optik seiner Kreationen überwacht, ist da ganz offensichtlich ein Stück weit von entfernt. Er steht – etwas überzeichnet gesprochen – am Fließband. Wenn das, was er präsentiert, nicht mehr ist, als das Produkt einer Manufaktur, bei der sein persönliches Mitwirken mehr oder weniger begrenzt ist, kann es noch nicht so weit her sein mit der puristischen Präzision.
Von puristischer Perfektion sind wir noch sehr weit entfernt.
Im Gespräch mit Charles Schumann habe ich meine Faszination für Reisbauern erwähnt, die nur eines wollen, nämlich den besten Reis schlechthin zu erzeugen und nichts anderes. Wenn man sich bei den Produkten, die uns heutzutage zur Verfügung stehen, unter solchen Aspekten umsieht, kann man nur zu der ganz und gar ernüchternden Erkenntnis kommen, dass uns so gut wie keine überragenden Produkte in diesem Sinn zur Verfügung stehen, dass viele Produkte völlig zu unrecht als überragend gelten, dass eine puristische Sehweise auf die Kochkunst so gut wie gar nicht existiert (sondern immer nur behauptet wird), dass wir in keinem Zweig der Gastronomie auf dem Weg zu puristischen Qualitäten bisher wesentliche Fortschritte gemacht haben usw. usf., die Liste könnte sehr lang werden.
Und deshalb bin ich von puristischen Ideen fasziniert, meinetwegen an Kartoffeln exekutiert, meinetwegen an Früchten, Getreide, allen Gemüsesorten, allen Tieren, allen Stücken von Tieren. Von zukünftigen Sushi-Meistern sagt man, dass sie erst nach langen Jahren, in denen sie die immer gleichen Handgriffe erlernen, überhaupt in der Lage sind, wirklich überragend zu arbeiten. Wenn man sich so etwas zu eigen macht und ehrlich ist, wird man erkennen, dass der Weg nach Innen, zur Konzentration, also dorthin, wo sich die ganz großen Qualitäten entfalten, der Weg ins Detail beim Kochen wie beim Essen allein schon deshalb so faszinierend ist, weil er uns noch ungeheure, ungeahnte Möglichkeiten gibt.
Diesen Purismus gibt es in Japan, auch vereinzelt in Italien, aber in Deutschland wird es niemals funktionieren. Nicht weil den Handwerkern (sprich Köchen) das Wissen, der Wille oder die Fertigkeit fehlten, sondern weil das Publikum von jedem Koch erwartet, dass er ein kulinarischer Tausendsassa ist, der auf zig Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann.
Sehr geehrter Herr Dollase,“Chapeau“für Ihren Purismus!
DANKE!