Prolog: Vladimir Putin saß einmal im „White Rabbit“ in Moskau und bat nach dem avantgardistischen Essen Chefkoch Vladimir Mukhin um einige Erläuterungen. Mukhin erzählte etwas von den Erinnerungen, vom kulinarischen Gedächtnis der Leute, und schließlich etwas von einer „neuen russischen Küche“. Putin hörte sich das alles an, machte dann eine deutliche Pause und sagte nur einen einzigen Satz: „Was ist ‚russische Küche‘“?
Die AfD hat durch Gunnar N. Lindemann (einem Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses) auf eine Untersuchung von Joel Waldfogel von der Universität Minnesota reagiert. Waldfogel hatte u.a. untersucht, wie hoch der Anteil heimischer Küche im Restaurantangebot verschiedener Länder ist. Das Ergebnis sieht Italien mit 77,3% vor der Türkei mit 73,4%, China mit 70,8% und Japan mit 70,6%. Frankreich kommt nur auf 44,5% und Deutschland bildet mit 35,5% das Schlusslicht.
Lindemann postete unter der Überschrift „Die deutsche Kultur geht den Bach ab! Anteil der Restaurants mit heimischer Küche nur noch 35,5%“ u.a. Sätze wie: „Nichts gegen ausländische Küche. Aber bitte nicht ausschließlich! Schließlich sind wir hier in Deutschland.“ Gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, als ob dieser Zustand nicht nur die Folge von Angebot und Nachfrage ist, sondern vor allem von einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur, verkürzt zusammengefasst: mehr Ausländer gleich weniger deutsche Küche, gleich weniger deutsche Kultur.
Diese – wie so häufig bei der AfD – scheinbare Plausibilität lohnt etwas genauere Betrachtungen. Sie führen fast zwangsläufig zu einer Reihe von weitgehend ungeklärten Einordnungen und Bewertungen von verschiedenen Seiten – nicht nur von der AfD.
Zuerst eine Korrektur: Es gibt keine „deutsche“ Küche. Es gibt Küchen der deutschen Regionen
Mit ihrem Versuch, die Küchen der Regionen zu einer „deutschen“ Nationalküche zusammenzufassen, ist die AfD nicht alleine. Gerade in den letzten Jahren hat es immer wieder Versuche gegeben, eine „deutsche“ Küche zu begründen – fast immer unter Beteiligung bekannter TV-Köche und gerne mit dem Versuch, identitätsstiftend zu wirken. Diese genuin kulinarisch gedachten Versuche haben und hatten nie im Sinn, Verknüpfungen mit politischen Fragen zu erreichen.
Was die Aussage des AfD-Vertreters sonst noch alles bedeutet
Wenn die AfD das Ergebnis der Untersuchung beklagt, sagt sie auch, dass dieses Ergebnis nicht im Sinne der AfD ist, das Gegenteil – also viel „deutsche“ Küche – aber sehr wohl. Lindemann unterstellt also quasi, dass mehr Regionalküche mehr im Sinne AfD sei. Seine Aussage ist der Versuch einer Ausnutzung der zu wenig vertretenen Regionalküche für die politischen Zwecke seiner Partei. Die Regionalküche wird in einen Reigen mit anderen „traditionellen“ Werten gebracht, die nach Meinung der AfD eine in ihrem Sinne wünschenswerte „deutsche“ Kultur ausmachen. Das ist natürlich zu einem ganz wesentlichen Teil völliger Unsinn. Kulinarische Traditionen sind im Prinzip genau so wenig politisch instrumentalisierbar wie etwa musikalische Traditionen. Es wird insbesondere nicht gelingen, ein bestimmtes politisches Verhalten an einem bestimmten kulinarischen Wahlverhalten festzumachen. Die Freunde einer bürgerlich-regionalen Küche finden sich in absolut allen politischen Lagern und zum Beispiel auch bei allen Typen von Geistesgrößen.
Es gibt einen Teilaspekt, bei dem ein Gedankengut, das der AfD-ähnliche ist, geradezu wie ein Verursacher der nun von einem AfD-Funktionär beklagten Situation dasteht
Es gibt eine – sagen wir: militante Fraktion unter den Freunden traditioneller Regionalküche vom Wirtshaustyp, die im kulinarischen Bereich gerne Radikalität zeigt und zum Beispiel die Spitzenküche oder die kreative Küche als ein regelrechtes Feindbild ansieht. Es gibt auch sicherlich Szenarien, die man gerne mit den Begriffen „Stammtischpolitiker“ oder „Stammtischparolen“ assoziiert, in denen es eine auffällige Nähe von Vorliebe für traditionelle Regionalküche und ein eher autoritäres Politik- und Gesellschaftsverständnis gibt. Diese Szenarien führen immer wieder bei anderen Gesellschaftskreisen zu einer Ablehnung dieser Art von „dumpfer“ Bürgerlichkeit und den dort bevorzugten Verhaltensweisen. Diese Ablehnung von Regionalküche als möglicherweise „dumpf-bürgerlich“ hat speziell in Deutschland zu einer Schwächung der natürlichen Akzeptanz von Regionalküche geführt, und das in der gesamten Phase der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Dass das gemeinte Milieu politisch eher rechts ist, ist immer wieder festgestellt worden. AfD-Funktionär Lindemann beklagt also das, was seine geistigen Freunde zu einem nicht unerheblichen Maße miterzeugt haben.
Das Untersuchungsergebnis ist nicht positiv zu sehen. An dem Resultat sind aber ganz unterschiedliche Kräfte beteiligt – von rechts bis links
Dass Deutschland in der genannten Untersuchung das Schlusslicht bildet, konnte erwartet werden, weil die Akzeptanz der Regionalküche unter einem vielfältigen Druck steht. Die Regionalküche hat sich bei uns nach dem Krieg nie wirklich in guten Bahnen entwickeln können, um dann – wie in anderen Ländern – auch qualitativ anspruchsvollere und gesellschaftlich weitgehend anerkannte Formen bis hin zu einer Spitzenküche auf der Basis traditioneller und regionaler Küche zu entwickeln. An dieser Entwicklung sind verschiedene gesellschaftliche Kräfte beteiligt. Eine irgendwie geartetes stärkeres Gewicht von Küchen anderer Länder gehört bestenfalls am Rande dazu und ist keinesfalls der Auslöser oder Grund für die Entwicklung.
Neben den oben schon genannten möglichen Konnotationen von Vorlieben für eine rudimentäre Regionalküche und autoritäre politische Ideen sind auch zum Beispiel auch Tendenzen innerhalb der deutschen Spitzenküche für die lange Zeit schlechte Entwicklung der Regionalküche verantwortlich. Die Faszination für die französische Haute Cuisine, später auch für Mediterranes und Asiatisches statt eines Bezuges zu den eigenen kulinarischen Traditionen hat die weitere Entwicklung zu mehr Akzeptanz wesentlich behindert. Gleichzeitig signalisierte dieser bis heute zu beobachtende Schritt eine gewisse Missachtung der eigenen kulinarischen Kultur, die sich in vielen Bereichen der Gesellschaft verbreitet hat. Eine wirkliche Entspannung mit einer deutlichen Hinwendung zu eigenen kulinarischen Traditionen ist erst seit relativ kurzer Zeit zu beobachten.
Dazu kommt eine häufig anzutreffende, ebenfalls kontraproduktive Haltung intellektueller Kreise in Deutschland. Ihre Geringschätzung für das Kulinarische als genuiner Bestandteil der Kultur und in seinen Spitzenleistungen auch als genuiner Bestandteil der Hochkultur hat der Regionalküche wenig mehr als einen banal-folkloristischen Platz eingeräumt. Wenn aber die Beschäftigung mit Kulinarischem – und erst recht auf der Ebene der Regionalküche – intellektuell sozusagen nicht als satisfaktionsfähig angesehen wird, werden auch mögliche Entwicklungen stark behindert und bekommen nicht den gesellschaftlichen Stellenwert, der ihnen eigentlich zusteht. Insofern sind solche Positionen ebenfalls Mitverursacher an der beklagenswerten Situation.
Oft komme ich mir vor in einem Parallel-Universum zu leben: Was das Essen angeht heißt das:
– Ich esse das typische, mehr oder weniger lokale, wo immer ich bin, sei es nun Shanghai, USA, Spanien, Frankreich …
– Ich komme sehr selten auf die Idee mir etwas, das ich in anderen Regionen genossen habe, woanders zu bestellen, einzukaufen, …
– Für deutsche Regionen heißt das: Gerne ein Hämmchen in Köln, Knipp in der Nähe von Bremen, —
Ich habe viele Freunde, die suchen in Deutschland kulinarische Urlaubserinnerungen (Italien, Spanien, Frankreich, China) und gehen z.B. in China italienisch, französisch etc. essen und sind dann oft hinterher krank.
Das kommt mir überhaupt nicht in den Sinn. Aber ich bereite (deutschen) Schweinebauch durchaus „chinesisch-artig“ zu.
Ich verwende auch in Deutschland Dinge, die hier als exotisch gelten, kleines Beispiel: Granatapfeldressing. Insofern hänge ich auch hier einigen mehr oder fernen Geschmacksrichtungen nach. Chili wächst ja auch noch nicht in Deutschland.
Auch von daher kann ich die Argumentation des AfD-Politikers überhaupt nicht nachvollziehen. Es geht um gutes Essen, und das sollte möglichst frisch sein, das ist das entscheidende!
Chili? Doch bei uns im Garten. Vier verschiedene Sorten. War ein Geschenk von einem Galabauer.
Sehr geehrter Herr Dollase,
nachdem ich die letzten drei Artikel in „einem Zuge“ verschlungen habe möchte ich Ihnen einfach mal ein großes Kompliment für Ihre amüsante, informative und wortgewandte Schreibweise machen. Sie öffnen den Horizont, gerade auch wenn man mal nicht Ihrer Meinung ist. So macht Lesen Spaß!! Vielen Dank und weiter so!!!