Vielleicht ist es dem ein oder anderen Gast noch gar nicht aufgefallen, aber es gibt da in der Gourmetküche den Verlust eines Objektes zu beklagen, das in seiner Bedeutung sehr viel höher einzuschätzen ist, als es den Anschein hat. Ich meine die oft große, gestaltete Speisekarte, jenes früher oft riesige Objekt, das dem Gast zu Beginn seines Essens regelrecht präsentiert wurde und – völlig zu recht – in vielen Fällen ein beliebtes bis begehrtes Sammelobjekt wurde. Signierte Speisekarten haben längst ihren Wert, der je nach Lage auch schon mal beträchtlich ist. Ein Blick ins Netz gibt da viele interessante Informationen.
Das Problem ist nun, dass diese Speisekarten kaum noch existieren. Im Zuge der starken Reduzierung des Speisenangebotes gibt es heute oft nur noch kleine, mit wenig Aufwand hergestellte Karten, auf denen wenig mehr als das angebotene Menü zu finden ist. Wo früher ein umfangreiches, oft aufwändig beschriebenes à la carte-Angebot präsentiert wurde, gibt es heute die Gänge und – bestenfalls – darunter die Angaben, in welchem Umfang man ein Menü bestellen kann.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Größe mancher Speisekarten belächelt wurde – auch und gerade von der Kritik und/oder den Restaurantführern. Man sah darin gerne eine monströse Selbstüberhöhung, die Größe der Speisekarte wurde als Demonstration von Wichtigkeit (um es einmal dezent auszudrücken…) angesehen, immer ein wenig einschüchternd, als wolle der Oberkellner sagen: „Hier also unsere edle Liste mit den sensationellen Kompositionen unseres kochenden Weltstars. Sie haben die Ehre, sich etwas davon aussuchen zu dürfen, und gehen Sie bitte davon aus, dass der damit verbundene Obulus bei weitem nicht eine echte Entlohnung für Werke dieser Qualität ist.“ – Wie dem auch sei, ich fand die Speisekarten trotzdem immer ein äußerst attraktives Sammelgebiet und besitze heute eine bisher nicht gezählte Ansammlung von teilweise äußerst spektakulären Karten (die hier abgebildeten sind zu einem Teil aus der kulturhistorisch interessanten Abteilung).
Ich habe hier auf www.eat-drink-think.de übrigens am 14.5.2020 einen Text veröffentlicht, der ebenfalls etwas mit dem Thema im weiteren Sinne zu tun hat. Der Titel ist: „Von Künstler Christo lernen heißt für gute Köche neue Einnahmequellen generieren.“ Es geht dort um Speisekarten, aber auch um Original-Skizzen zu Gerichten aus der Hand berühmter Köche, also um Originale, die durchaus in irgendeiner Weise vermarktet werden könnten. Wenn ich mir zum Beispiel vorstelle, dass man in einem Gourmetrestaurant ein Fest mit einem Menü mit einer etwas größeren Gruppe feiert und dann als Veranstalter/Einladender eine gerahmte, signierte Speisekarte mit einer Originalskizze eines Gerichtes bekommt, wäre das sicherlich nicht unattraktiv.
Die Speisekarte als Sammelobjekt
Die Speisekarte als Sammelobjekt ist längst nicht mehr nur eines der üblichen Erinnerungsstücke, die man sich irgendwo zur Seite legt. Im Internet gibt es mittlerweile eine beträchtliche Ansammlung von Speisekarten, wobei die Preise offensichtlich noch kaum standardisiert sind. Manchmal bekommt man das gleiche Objekt zu höchst unterschiedlichen Preisen – je nach Wertschätzung eben. Als Sammler von Büchern und auch kulinarischen „Ephemeria“ (oder „Ephemera“, so der Sammelbegriff für solche „vergänglichen“, also normalerweise als Funktionspapier irgendwann weggeworfenen Papiere) schätze ich den Wert solcher Dinge eher hoch ein, aber nicht unbedingt so spekulativ hoch, wie das manche Anbieter tun. In Antiquariaten ist die Lage eher schlecht. Entweder hat man (noch) keinerlei Interesse, die Sammlungen an Grafiken oder Autografen aller Art mit Speisekarten zu ergänzen, oder man ist geradezu hilflos, weil solche Objekte so gut wie nie irgendwo auftauchen. Wer nach Speisekarten sucht, wird schnell merken, dass die richtig guten, schönen Stücke nur sehr selten irgendwo auftauchen. Es versteht sich von selber, das signierte Stücke oder gar Widmungsexemplare oder sogar Widmungsexemplare mit bekannten Namen einen ganz besonderen Wert haben.
Die aktuelle Entwicklung mit den kleinen, mehr oder weniger schmucklosen, gerne ganz einfach am Computer entworfenen Menükarten hat damit kaum noch etwas zu tun. Der Wandel von einem repräsentativen Objekt, das auch gerne gesammelt wird, hin zu einem vorwiegend funktionalen Stück ist bedauerlich und geeignet, eine lange Tradition zu beenden.
Die Speisekarte als unverzichtbares kulturgeschichtliches Dokument
Abgesehen vom künstlerischen Wert oder dem Wert als Erinnerungsstück haben Speisekarten eine enorme kulturgeschichtliche Bedeutung. Diese Bedeutung hat viel damit zu tun, dass man den Geschmack von Essen nicht wirklich gut dokumentieren kann und auch Rezepte in der Regel nur ein äußerst unvollkommenes Dokument sind. Was bleibt sind ein paar Bücher und eben die Speisekarten. Wer zum Beispiel feststellen will, was man in Berlin on den „Goldenen Zwanziger Jahren“ in den Restaurants gegessen hat, wird vor allem bei den Speisekarten fündig werden – so er sie denn findet. Wer wissen will, wie sich die heutige Gourmetküche aus der höfischen Küche über die großbürgerliche Küche schließlich in öffentliche Restaurants verlagert hat, wird fast ausschließlich auf die Speisekarten (oder einige wenige andere Aufzeichnungen) als Quelle zurückgreifen müssen. Wer etwa die Geschichte der Gourmetküche parallel zum Aufkommen des Guide Michelin verfolgen möchte, kann das am besten mit dem dreibändigen Buch von Inge Huber (alias: Jeanne B. Barondeau) tun, der es vor etlichen Jahren gelungen ist, den gesamten Nachlass dieses berühmten französischen Restaurantkritikers und kulinarischen Autors zu erwerben. In diesem Buch, das übrigens unglaublich spannende Einsichten in die Entwicklung der Gourmetküche bietet, sind die vielen Speisekarten der Sammlung ein Kernstück für die Dokumentation.
Die Speisekarten sind also in Ermangelung von sonstigen Dokumenten ein absolut unverzichtbarer Teil der Dokumentation der Kochkunst und des Essens und können bis auf den heutigen Tag eine Menge von Antworten auf viele interessante Fragen liefern. Die Geschichte großer Restaurants, großer Köche oder auch kulinarischer Trends kann nur mit Hilfe der Speisekarten als Dokumentation des Angebots geschrieben werden. – Was aber wird man über eine Zeit sagen können, in der bis auf ein Menü in schlichtester Präsentation nichts mehr zu erfahren ist? Dass die guten Restaurants immer weniger repräsentativ dafür wurden, was sich in der Kochkunst abspielt? Dass sie sich auf wenige Gerichte beschränkt haben? Dass die gestaltete Speisekarte als Teil der Tischkultur durch banale „Zettel“ ersetzt wurde?
Ich hoffe auf Änderung, auf die Wiederkehr der Sammelstücke.
Zum Abschluss möchte ich eine Speisekarte erwähnen, die quasi als Anti-Speisekarte schon wieder zu einem Sammelstück geworden ist. Alexandre Gauthier vom „La Grénouillère“ in La Madeleine-sous-Montreuil in Nordfrankreich ist zum Beispiel damit aufgefallen, dass er seine Gänge teilweise auf Tellerscherben serviert – ein kleines Spiel mit der „Tischkultur“ und „Regeln“ wie der, dass hervorragendes Essen auch von viel teurem Geschirr, Gläsern und Besteck begleitet werden sollte. Gauthiers Speisekarte wird als zusammengeknüllte Kugel aus dünnem Papier an den Tisch gebracht. Man muss sie nehmen, auseinanderfalten und erst einmal etwas glätten, bis man sie lesen kann…
P.S. Ich bin immer für Zusendungen von Speisekarten aller Art dankbar.
Lieber Herr Dollase,
Sie sprechen mir aus dem Seele. Ich gehöre auch zu denen, die eine schöne Speisekarte schätzen und sie gerne signiert mitnehmen. Wenn es den wenigstens eine Karte wäre, aber es ist heute ja gerade mal ein Zettel, vielleicht von DIN A 4 auf DIN A 5 gefaltet. Früher konnte ich mich gut an ein Menü anhand diese Speisekarte erinnern, wo heute jedermann den Teller mit seinem Smartphone knippst um ihn nachher zu „sharen“. Nein, pochen Sie mit Ihrem Gewicht des Kritikers darauf, dass man sich da wieder mehr Mühe gibt.
Und von den Karten, die man Ihnen nach Ihrem Aufruf schickt und die Sie dann doppelt haben, entlaste ich Sie gerne.
Viele Grüße
Andreas Lange