Ich übertreibe selten, aber wenn Jean-Marie oder ich nach unserer Lieblingsfarbe gefragt würden, wäre unisono Grün ganz vorne. Unsere Affinität zu Grün begleitet uns schon über 40 Jahre gemeinsamer Kräuter- und Wildpflanzenverbundenheit. Auf unzähligen Kräuterwanderungen, die auch in unserem Garten endeten. Und auf vielen Reisen, die wir als Wildpflanzenbotschafter unternommen haben. Grün ist nicht gleich Grün. Es gilt als Farbe der Hoffnung. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass wir mit unseren Worten keine politische Aussage treffen, Meinungen in dieser Richtung aber auch nicht ausschließen wollen. Die Farbe Grün steht aber nicht nur für Hoffnung. Solche Einschränkung erlauben ihre Nuancen nicht. Sie sind zu zahlreich und ineinander übergehend. Im Bereich der Sensitivität von Nase und Zunge erwarteten erfahrungsgemäß die Schmeckenden eher etwas Säuerliches, wie milchsäurevergorener Weißkohl, besser bekannt als Sauerkraut. Rhabarber, Limetten, grüne Apfelsorten, Gurken, aber auch schlecht ausgebaute und in grünen Flaschen verkor(s)kte Weinsorten. Die Lebensmittelindustrie setzt schon mal auf künstlich begrünte, süß-saure zitterige Gelatineprodukte. Wir sehen als kompletten Ersatz für die guten Seiten von Grün, Knöterich, Sauerampfer, Sauerklee, die Blätter der Berberitze oder der Hainbuche sowie Hopfensprossen. Was Dumaine an Neophyten und einheimischen Pflanzen in die Küche bringt, ist eigentlich unglaublich.
Jedes Jahr im Mai ist Riesenbärenklauzeit. Und jedes Jahr bringen die heimischen Printmedien dieselbe Story über die Giftigkeit dieses Gewächses. Und die Kreisverwaltungen, mit den Landräten an der Spitze, rücken zur radikalen Ausrottung ins Feld. Dabei könnte man auch die Blagen darauf aufmerksam machen, dass sie gefälligst die Finger davon lassen sollen, ähnlich wie heißer Herd, Nikotin oder Alkohol. Ich habe es inzwischen aufgegeben, Leserbriefe zu schreiben, die darauf hinweisen, dass Riesen- und auch der Wiesenbärenklau phototoxisch sind, also der Saft, der auf die Haut gelangt und zwar nur bei Sonnenschein. Reaktion ist meistens ein Shitstorm mit Morddrohungen, der an meiner geistigen Fähigkeit abzielt. Nein, ich schreibe nicht mehr, dass Jean-Marie ein Rezept in einem seiner Bücher offeriert, nämlich Riesenbärenklau mit Nonnenfürzchen und Sauerkirschen. Also an dieser Stelle schreibe ich es nochmal exklusiv für alle Lesenden dieser Geschichte. Die Pflanze ist essbar, also wer sie mag und Kenntnisse über die Toxizität in Verbindung mit Sonnenlicht hat. Dumaines Bücher gehören in die Regale von Wildpflanzenliebhabenden. Diese Liebe zu Grün ist nicht plötzlich entstanden, sie ist gewachsen und zur Leidenschaft geworden. Sie begann mit der Zutat üblicher Kräuter, wie Petersilie, Estragon und Salbei als essentielle Gewürze für Konserviertes. Und dann mal wieder die alte Geschichte. Als Jean-Marie vor über vierzig Jahren nach Deutschland kam, brachte er außer Visionen nicht viel mehr mit als das, was in seiner Reisetasche als handwerkliche Grundausstattung vorhanden war. Aber das war eben nur äußerliches Gepäck. Seine Eltern hatten ihn ziehen lassen, sie versuchten erst gar nicht, ihn zu halten, denn sie wussten, dass er ihren normannischen Dickschädel geerbt hatte und dass ihn die harte, aber herzlich-familiale Erfahrung, mit acht Geschwistern aufzuwachsen, in der Fremde schützen würde. Er hatte aber andere, immaterielle Dinge, mitgebracht, nämlich einige Paté – und Terrinenrezepte seiner Großmutter, für die er ihr heute noch dankbar ist. Wurde auch die Textur dieser Köstlichkeiten leicht verändert, die Grundlagen blieben. Frische regionale Produkte und sorgfältige Verarbeitung. In seiner Manufaktur, nehmen sie bis heute eine Sonderstellung ein, sie sind das Maß für konservierten Genuss. Dass seine Heimat einmal Sinzig werden würde ahnte er damals noch nicht, aber es hat sich als gute Wahl heraus gestellt, als Wahlheimat im wahrsten Sinne des Wortes.
Diese Region bietet alles, was einen engagierten Menschen begeistern kann, eine bezaubernde Landschaft, erstklassige Erzeugnisse, mildes Weinbauklima und vor allem nette Menschen, die gutes Essen lieben und mit durchschnittlicher Küche nicht zufrieden sind. Ihre kulinarische Vergangenheit erstreckt sich immerhin auf etwa zweitausend Jahre. Sein bereits damals vorhandenes Verständnis, dass es beim Kochen keine Grenzen gibt, es sei denn sie sind im Kopf bereits vorhanden, ermunterte ihn, neue Wege zu beschreiten. Er begriff, dass die Natur einen üppigen Tisch deckt, auch in der rauhen Jahreszeit. Ihre Angebote muss man nur erkennen und annehmen, um sie kulinarisch nutzen zu können.
Die besondere Frische der grünen Schatzkammer präsentiert sich bereits im Februar mit Weinbergkräutern, wie Feldsalat und Löwenzahnwurzeln. Zarte Knospen von Disteln oder Pappeln warten darauf, aus dem Winterschlaf erweckt zu werden, sie haben sich ausgeruht, Kraft geschöpft, sie rufen nach uns, sie wecken neue Visionen, neue Hoffnung auf Ernte und kulinarische Offenbarungen. Doch Grün kann auch süß sein, wie Stevia, das Süßkraut. Diese Pflanze erfreut den Gaumen bereits beim ersten Kontakt. Sie löst eine native Genusserinnerung aus, die im Unterbewussten gespeichert ist, denn sie führt die Geschacksknospen des Mundes zu ihren Ursprüngen zurück, zum ersten postnatalen Genusserlebnis, zur Süße der Muttermilch. Ich erwähnte das bereits in der ersten Story dieser Serie. Aber Vorsicht, Stevia hat eine ungeheure Süßkraft. Sie übertrifft Zucker um das Vielfache und so ist es nicht verwunderlich, dass die Zunge nach einiger Zeit mit Bitterkeit reagiert. Wildpflanzenküche spielt mit den Gaben der Natur, entlockt ihnen die geheimen Aromen, eröffnet globales Denken und hebt den Blick, so dass immer weniger Grenzen sichtbar bleiben. Sie erzeugt eine süchtig machende Spannung, die aber die Motivation für neue Geschmackssensationen nicht behindert, sondern verstärkt.
Ich habe dieses Jahr beschlossen mal wieder mehr Garten zu machen. Langweilige Mähwiesen werden zu blühenden Paradiesen für Insekten der Arten, die noch nicht durch Pestizide dahingerafft wurden. Und Platz für Hase und Igel habe ich auch berücksichtigt. Ich habe dicke Bohnen gelegt, am Josefstag versteht sich. Die Erbsen klettern an alten Weinruten und mein Nachbar schielt auf meine acht Kartoffelpflanzen, die ich vor der Biotonne gerettet habe. Sie sind bereits ca 35,67 Zentimeter hoch. Ich warte auf Jungpflanzen von Stekovics, deren Pflanzstellen ich penibel vorbereitet habe.
Außerdem spielen aus versteckten Lautsprechern, je nach Laune, musikalische Meisterwerke und fördern das Wachstum von Lavendel und Tagetes oder oder. Zur Zeit lauschen alle Gewächse auf die CD von Tobias Sudhoff und wiegen sich im Takt von Danke Paul, und wispern: Großartig!
Dieser feuchte und etwas kalte Mai lässt sattes Grün entstehen und tolle Himmelsbilder. Die Frösche im kleinen Teich am Haus machen eine wahnsinnigen Quakpegel, die vom größeren Teich in 120 Meter Entfernung antworten, nicht weniger nervig, begleitet vom Hahn, den der Nachbar zusammen mit neun Hennen vom Eierbauern gerettet hat. So eine Hahnsuppe wäre diese Woche noch eine Alternative. Mal sehen. Corona hat in gärtnerischer Hinsicht eine Wiederentdeckung von Hacke, Spaten und Sämereientüten bewirkt. Ich hoffe Corona verschwindet, die Liebe zum grünen Daumen hoffentlich nicht. Und vielleicht sehe ich ja mal wieder Jürgen Dollase im Garten, zusammen mit Gattin und Hund. Tja, möglich ist es.
Bleibt negativ, denkt positiv
rät Frank
Sum ut fiam.
Das schreibt Tobias Sudhoff bei Facebook:
Frank Krajewski schreibt wieder einmal einen großartigen Artikel für eat drink think – und unsere CD „Lieber Paul…!“ kommt auch darin vor – danke lieber Frank, wie immer ein literarischer Hochgenuss!