Neben der Begleitung auf seinen Reisen unterstützte ich Jean-Marie auch in der Anfertigung von Manuskripten zur Darstellung kulinarischer Sachverhalte. Er skizzierte seine Gedanken und ich schrieb sie in relativ flüssigen Text um. Wir pflegen eine schreibende Symbiose. Da ich ihn schon ein halbes Leben kenne weiß ich auch was er meint, oder wie er tickt. Er gab mir eines Tages ein paar handschriftliche Notizen zum Thema Wein und Trauben, das er für ein bekanntes kulinarisches Magazin bearbeiten sollte. Ich habe seine Aufzeichnungen dann formatiert:
Polyphem, der Kyklop, traute seinem Auge nicht als es sah, wie Odysseus und seine Gefährten mit bloßen Füßen den flüssigen Inhalt aus den thrakischen Weintrauben pressten. Als der schlaue Grieche ihm anschließend den teilvergorenen Saft zum Probieren gab, konnte der Gigant nicht widerstehen und leerte den Bottich standesgemäß mit Riesendurst. Die folgende Umnebelung seiner Sinne führte dazu, dass er seinem Auge nie mehr trauen, konnte genotypisch und phänotypisch hätte er mit dem Zweiten ohnehin nicht besser sehen können. Soweit die Sage oder der Hollywoodfilm. Immerhin hatte der Traubensaft für Odysseus befreiende Wirkung, und wir haben gelernt, dass der damalige Hypewein aus Thrakien stammte, heute also dem Dreiländereck Bulgarien, Griechenland und Türkei zuzuordnen. In unsere Breitengrade gelangte die vielkugelige Edle wahrscheinlich aus dem Bereich Kaukasus-Iran, und sie hatte auch einen festen Platz in der Arche des Noah. Gäbe es einen Rangplatz von Früchten, die in der Bibel erwähnt werden, hätte die Rebe und ihre Kinder die Nase vorn. Ratingplatz Number One gewissermaßen, nämlich als eines der Symbole der christlichen Kultur. Ähnlich wie die Burgundertrüffel und ihre Verwandten wanderten auch die Weinreben immer weiter nach Norden, die klimatischen Veränderungen erlaubten und beschleunigen diese Vorgänge. So wurden bereits in Finnland Reben und Trüffelbäumchen gepflanzt und ein dort ansässiger Freund wartet, Kellertechnik bei Fuß, auf reiche Ernten, wobei die Technik nur für die Weinbereitung installiert wurde. Leider offenbaren die Trüffelpilze ihre Früchte nicht so ausladend. Nun hieße es, Eulen nach Athen oder Wein in die Pfalz tragen, wenn ich mich in diesem Artikel mit der Weinherstellung befassen würde. Was mich beschäftigt ist das Vorher und das Nachher der Traubenernte. Was produziert die Rebe, kulinarisch verwertbares, außer köstlichen Weinbeeren, deren Sprossen, streng genommen nicht als Trauben sondern Rispen erscheinen? Nun gut, die Bezeichnung Traube hat sich seit Jahrtausenden von Mund zu Ohr herum gesprochen und sie wurde Namensgeber für hunderte von Restaurants und Gasthäusern, meist noch mit Zur versehen. Ich weiß sehr gut, wovon ich spreche, denn meine erste Wirkungsstätte in Deutschland war eng mit diesem Begriff verknüpft, und ich denke gerne an diese Zeit zurück. Mein Traubenjahr beginnt fünfzig Tage nach Ostern, an Pfingsten. Jetzt erscheinen die ersten Traubenblüten und in den Weinanbaugebieten beginnt die Zeit der Traubenblütenfeste. Vor Corona jedenfalls. „Traubenblüten genießen? Geht das?“ werde ich manchmal ungläubig von Gästen gefragt. Ich antworte: „Sie tun es gerade! Als Amuse Bouche reichen wir heute Traubenblüten in Tempura fritiert oder einfach in Sirup kandiert und bei 80 Grad Celsius in Puderzucker getrocknet, als Ergänzung zum Dessert.“ Verblüffung folgt. Einige Wochen später locken die zarten Blätter, die in Salzlake konserviert und unter Milchsäuregärung fermentiert werden. Sie sind, mit Fisch, Fleisch oder Polenta gefüllt, eine Vorspeise, die ihresgleichen sucht, aber nicht findet. Die frisch treibenden Halteranken laden dann zum Genuss ein, wenn sie unter dem sanften Druck zweier Finger zerbrechen. Also verwende ich nur die zarten Geize, die aber nicht am Geschmack geizen, vorher in Weinessig eingelegt und dann mit Rosinen und frischen Trauben zu einem Mousse als Rosinen-Kapern-Soße zubereitet werden. Leider hat der Winzer seinen Weinberg inzwischen eingezäunt. Bei Rosinen bin ich dann bereits jenseits der eigentlichen Traubenernte angelangt und habe meine Intention erfüllt. Natürlich lassen sich aus frischen Trauben, neben der Weinherstellung, weitere phantasievolle und absolut köstliche Desserts zubereiten, diese Rezepte füllen bereits Bücherregale. Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden die befreiende Wirkung dieser Köstlichkeiten spüren und mit allen Sinnen und hoffentlich beiden Augen durch die Welt gehen. Polyphem war dieses leider, aus bekannten Gründen, nicht vergönnt. Vielleicht lebt er ja in Form der Polyphenole in den Trauben und im Wein weiter.
Und so wundert es nicht, dass Jean-Marie immer auf der Suche nach kulinarisch neuen Ufern strebt, denn es gibt nichts auf der Welt, das verborgen bleibt, wenn es geschmacklich attraktiv ist. So war ihm zu Ohren und Zunge gekommen, dass im südlichen Ungarn eine Ölmühle Paprikakerne auspresst. Man hatte mit einer Warenhauskette zusammen eingefädelt, dass der Wildpflanzenguru die Ölqualität vor Ort, nämlich in Szeged, überprüfen solle. Im positiven Falle wollte die Gourmetabteilung des Kaufhauses das rote Nass aus dem Süden Ungarns importieren und vermarkten. Meine Fahrkünste waren mal wieder gefragt, denn unser dritter Mann in Richtung Wien besaß keinen Führerschein. Die erste Etappe führte uns ins noble Hotel Holzapfel nach Bad Füssing und ich wollte zum Abendessen typisch bayrische Schmankerln genießen. Diese befanden sich aber ausgerechnet an diesem Abend nicht auf der Karte, und ich bestellte eine Dorade mit wählbaren Beilagen. Auch nicht zu verachten. Der nächste Tag brachte uns gut voran, bis meine Mitfahrer plötzlich auf die Idee kamen, das Outletcenter in Parndorf bei Wien zu besuchen, um Sportschuhe und Jeans zu kaufen. Wir hatten ja bis Szeged nur noch etwas über 363,6 km vor uns. Meine Hoffnung auf ein schönes Mittagessen zerschellte an einem labberigen Fischbrötchen einer Nordseefirma und die Hitze bekämpfte ich mit einem Himbeeraromaeis, dessen flüssige Bestandteile an meiner Hand herab liefen. Die beiden Mitreisenden erstanden tatsächlich etwas z.B. kaufte Jean Marie ein paar neue Sportschuhe. Ich wollte nicht verhindern, dass er der Verkäuferin die Vorzüge seiner alten Treter schilderte, die aber ein anderes Markenzeichen trugen als die neu zu kaufenden Schleicher und ca. fünfundzwanzig Jahre auf den Senkeln hatten. Wir erreichten Szeged am frühen Abend, bezogen unsere Hotelsuiten und fuhren anschließend zur Firma RUBIN, die Paprikaernten der gesamten Umgegend aufkauft und zu allem möglichen verarbeitet, meistens Trockenware. Es duftete angenehm und wir erlebten eine Betriebsbesichtigung, die Herr Riesing, einer der Chefs, leitete. Auch die kleine Ölmühle geriet in unser Blickfeld und wir sahen das dünne Rinnsal von Paprikakernöl, das aus Unmengen von gelben Kernen gepresst wird. Ein Öl, das eine gewisse Schärfe im Mund erzeugt, eher eine Wärme. Als Salatdressingbeigabe ungewöhnlich. Man sollte keine helle Kleidung bei der Verkostung tragen. Die Färbekraft ist enorm. Der Presskuchen wird ebenfalls weiter verarbeitet, ich weiß allerdings nicht mehr zu was. Ich erinnere mich nur, dass mein Magen sich meldete, das Fischbrötchen war längst vergessen. Aber alle redeten über Vermarktungsstrategien, Füllmengen, Flaschengrößen und Aufkleber. Gegen 21 Uhr fuhren wir endlich in ein schönes Restaurant mit Außenbewirtung. Es herrschte noch mächtig Betrieb, aber Riesing hatte telefonisch einen Tisch reserviert und wir genossen das Abendessen, das wir uns verdient hatten, vor Allen ich. Szegediner Gulasch, was sonst? Und Fischsuppe mit Karpfenstücken, dazu trockenen Muskateller. Ein neues Gefühl auf der Zunge und im Abgang. Respekt. Mein Magen beruhigte sich, und ich freute mich über das gute Essen und das schöne Ambiente am Ufer der Theis. Am nächsten Morgen besichtigten wir zunächst die unendlichen Weiten der Puszta, sandige Paprikafelder und prallvolle Weingärten. Wir sagten Tschüss zu Herrn Riesing und fuhren Richtung Budapest. Unser Mitreisender unterhält in Budapest eine kleine Wohnung, die eine Bekannte von ihm bewohnt. Nach einigen Telefonaten von unterwegs aus, hatte er diese wohl hinaus komplimentiert und eröffnete uns, dass wir, nicht wie vorher geplant, in einem Hotel übernachteten, sondern in dieser Herberge. Als wir dort eintrafen entschloss ich mich erst einmal zu duschen. Dummerweise hatte ich nur kaltes Wasser zur Verfügung, konnte aber nicht fragen, wie ich an wärmeres kommen könnte, da der Wohnungsbesitzer und Jean-Marie verschwunden waren. Sie kehrten nach etwa einer Stunde zurück und ich roch den Eindruck, dass sie irgendwo bei einer Weinverkostung gewesen waren. Nun gut ich war auf jeden Fall auch erfrischt, das kalte Wasser war bei dreißig Grad Zimmertemperatur zu ertragen. Wir tranken in einem kleinen Bistro Wein, etwa drei Flaschen und gingen dann in das berühmte Gerbeaud. Mal wieder etwas Deftiges für mich, eine ausgezeichnete Schweinshaxe. Das Hotel Four Seasons servierte noch einen Merlot-Absacker mit Salznüssen und Pianofeeling. Nach durchschwitzter Nacht folgte eine Besichtigung relevanter, kulinarisch bedeutsamer, Orte. Wir bummelten über die berühmte Einkaufsmeile Váci Utca und durch die nicht minder berühmten Markthallen, wo Dumaine mit der Paprikakönigin flirtete. Ich staunte über die reichen Angebote, die auf Kaufende warteten. Wir warfen auch einen Blick in das Restaurant ONYX, das damals einen Stern hatte, heute wohl zwei, solange keine Sterneesser dort einkehren. Nach Besuch eines sehr aufgeräumten Weinkellers ging es in Richtung Frauenkirchen zum Einkaufen bei Erich Stekovics. Um die Mittagszeit, noch in Ungarn, genehmigten wir uns etwas klassische Paprikaküche in Autobahnnähe. Bei Erich war Ende August natürlich Paradeiserernte, und so hatte niemand wirklich Zeit für uns. Wir suchten uns ein Fleckchen am See und genossen Kleinigkeiten auf einer Gartenterrasse in einem urigen Lokal. Erst am Abend konnten wir uns mit Erich gemütlich zusammen setzen. Bei ganz feiner pannonischer Küche in Podersdorf, nahe Frauenkirchen. Weingut Umathum hatten wir auch besucht und reichlich Wein geladen. www.umathum.at/de
Ich war wieder begeistert von den Weinkellern und der anthroposophischen Ausrrichtung der Weinkultur, die Josef Umathum, pflegt. Dass seine Weine ausgezeichnet munden, wusste ich bereits vom Besuch beim Kaiser, einige Zeit vorher. Ich wusste aber noch nicht, dass ich zwei Wochen darauf wieder in Budapest weilen sollte. Man kann halt nicht alles wissen, aber Reisen bildet und: Reisende soll man nicht aufhalten. Die Rückkehr nach Sinzig verlief unspektakulär. Der Wagen lief sehr stabil über die Autobahn, denn das zulässige Gesamtgewicht wurde durch die Beladung mit Stekovics und Umathum-Köstlichkeiten fast erreicht. In diesem Jahr, also 2021 werde ich mich an Tomaten, sorry Paradeisern und Paprikapflanzen versuchen. Mein Garten wartet auf die Jungpflanzen von Erich und Priska. Die jungen Pflanzen werden nach den Eisheiligen zu mir verschickt, so stehts auf der Webseite. Eisheilige? Die beherrschen schon den gesamten April. Denen werde ich es zeigen. Die sollen bloß nicht glauben, wen die vor sich haben.
www.stekovics.at/pflanzen/jungpflanzenversand/
Freuen Sie sich nächsten Sonntag auf ein weiteres, neues Kapitel aus dem spannenden kulinarischem Leben von Frank Krajewski.