Es ist wieder soweit mit einem Update der Michelin-Bewertungen und man muss sich zuerst die Frage stellen, ob die Bewertungen in diesem Jahr auf einer soliden Basis stattfinden konnten. Die Saison war verkürzt, aber nur ein wenig, und insofern gab es einerseits genug Zeit, sich Eindrücke in den Restaurants zu verschaffen. Andererseits ist die Lage in der Gastronomie immer noch bei weitem nicht so wie vorher und jede Bewertung sollte äußerst vorsichtig stattfinden. Was zum Beispiel viele Beobachter möglicherweise nicht auf dem Schirm haben, ist die Tatsache, dass wegen der verkürzten Öffnungszeiten das Arrangieren von Testbesuchen stark erschwert ist. Und das ist nicht das Einzige. Es gibt ein verkürztes Speisenangebot – oft genug nur mit einem einzigen Menü ohne größere Wahlmöglichkeiten. Oder es gibt Probleme mit dem Personal, das nicht mehr so verfügbar ist, wie vor Corona. Selbst in den Küchen von Drei Sterne-Restaurant gab und gibt es Schwierigkeiten, alle Posten wieder so zu besetzen, wie das früher der Fall war. Es gibt in jedem Falle eine ganze Reihe von im Moment noch instabilen Variablen, die bei der Einschätzung von Restaurantleistungen eine Rolle spielen können – um es einmal neutral zu formulieren. Überlegungen in dieser Richtung gibt es seit Monaten. Nachdem der Führer für 2021 trotz stark reduzierter Saison dennoch erschienen ist, waren sich die Beobachter aber sicher, dass die Basis für 2022 wieder eine verbesserte ist.
Der Fehlgriff
Mit dem, was nun aber passiert ist, hat wohl niemand in Deutschland und darüber hinaus gerechnet. In einem eklatanten Fehlgriff, der alle weiteren Entscheidungen überschattet, und den man wohl zu den schlimmsten Fehleinschätzungen in der Geschichte des deutschen Michelin-Führers zählen muss, hat man ausgerechnet eines der Flaggschiffe der deutschen Gastronomie, das „Vendôme“ von Joachim Wissler in Schloss Bensberg abgewertet und den dritten Stern entzogen. Ganz unabhängig von den Details (dazu komme ich später noch) fällt mir sofort auf, dass es hier nicht um einen Koch geht, der – wie eine ganze Reihe von französischen Drei Sterne-Köchen – langsam mit seinem Ruhm älter wird, sondern um einen Koch, der nach wie vor immer wieder mit Neuentwicklungen glänzt und neue Tendenzen setzt. Es muss hier ganz klar gelten: Wenn man bei Michelin konsequent wäre, müsste man nach der Abwertung von Joachim Wissler nun ein Drittel der französischen Drei Sterne-Köche abwerten.
Ich bin bereits in Kenntnis von einigen Details. Es handelt sich bei der Einschätzung von Wisslers Küche offensichtlich nicht um handwerkliche Probleme, sondern eher um stilistische Fragen. Man hält die Gerichte von Joachim Wissler für zu komplex, zu kompliziert, was dann wiederum wohl bedeutet, dass man mehr Klarheit und Übersichtlichkeit, weniger Elemente usw. usf. haben möchte und das dort anscheinend nicht findet. Diese Erbsenzählerei, die leider schon immer ein Thema der Anti-Spitzenküchen-Stammtischplauderei gewesen ist, ist in der Hand eines Führers ein Übergiff in den stilistischen Bereich, der nie und nimmer stattfinden dürfte. Ganz offensichtlich hat man die enorm aktuellen, wegweisende Tendenzen in vielen der Gerichte von Joachim Wissler nicht erkannt, vielleicht weil man nicht in der Lage war, die differenzierte Struktur dieser Kreationen zu erkennen. Wissler erzeugt – nur um einmal kurz daran zu erinnern – einen äußerst süffigen auch über den assoziativen Kontext enorm wirksamen Geschmack, neuartig und trotz der Neuartigkeit äußerst präzise erarbeitet. Mi dieser Tendenz ist Wissler da, wo er immer vor, ganz vorne in der Reihe der Köche, die die Kochkunst weiter bringen.
Sollten Führer den Stil von Küchen bewerten?
Das hat man bei Michelin offensichtlich nicht verstanden, nicht übersehen und war offensichtlich nicht in der Lage, Fortschritt zu erkennen. Das muss nicht weiter verwundern, weil es bei Michelin immer wieder Tendenzen gab, Dinge zu übersehen, weil sie zum Beispiel nicht über das geeignete Personal verfügen. Hier nun geht es offensichtlich nicht um das Kerngeschäft des Führers – also vor allem handwerkliche Qualitäten im Auge zu haben und darüber hinaus dafür zu sorgen, dass auch neue Entwicklungen sachgerecht zwischen Köchen und dem Publikum vermittelt werden. Wenn von zuviel Komplexität oder angeblich Kompliziertem die Rede ist, wird es schwierig. Es kann nicht die Aufgabe eines Führers sein, über Stilistik zu befinden. Es gibt verschieden aufgebaute Küchen, ganz unterschiedliche Stile und ganz unterschiedliche Formen, ein hervorragendes Resultat zu erzielen. Ausgerechnet Joachim Wissler schafft aber gerade eine Form der kommunizierbaren Kochkunst, die auf viele Details gebaut ist, um dann aber zu einem „lesbaren“, sehr gut schmeckenden Ergebnis zu kommen.
Das hat man nicht verstanden und trotzdem bewertet, und man hat falsch bewertet. So etwas darf nicht passieren. So etwas ist peinlich, ist ein Skandal. Ich sage voraus, dass es wegen dieser Entscheidung noch sehr viel Diskussionen geben wird.
Die weiteren Ergebnisse
Natürlich drückt man sich bei Michelin in der Veranstaltung vor einer Veröffentlichung der Abwertung. Würde man mit Wisslers Abwertung zu Beginn erwähnen, wäre die Veranstaltung gelaufen. Ich möchte nun erst einmal allen Ausgezeichneten ganz herzlich gratulieren. Ich bin da ganz bei Ihnen und freue mich mit Ihnen.
Bei den neuen 1 – Stern Restaurants gibt es viel Logisches – zum Beispiel die neuerliche Ehrung für den „Schwarzen Hahn“ und Stefan Neugebauer in Deidesheim, „The Stage“/Dyllong in Dortmund, Sven Nöthels neues Restaurant in Duisburg, „Phoenix“ in Düsseldorf, „Troyka“ in Erkelenz mit russisch-fundierter Küche. Das „Jellyfish“ und „Zeik“ sind dabei, beim „DNA“ im „Tantris“ hätte man vielleicht mit mehr gerechnet und die Nachfolgerin von Tohru Nakamura im „Werneckhof“, Sigi Schilling, hat – aus dem alten Tantris kommen – ebenfalls einen Stern.
Bei den neuen 2 Sterne-Restaurants gibt es gleich 8 neue Namen. Edip Sigl vom „Essenz“ in Grassau glänzte schon vorher in München. In Saarlouis kommt Martin Stopp von „Louis Restaurant“ dazu, Anton Gschwendtners Ehrung im „Atelier“ war ein wenig zu erwarten. Etwas überraschender ist der Wiederaufstieg der „Speisemeisterei“ in Stuttgart von Stefan Gschwendtner. Felix Schneider hält auch in seinem neuen – nicht für ewig geplanten Restaurant „Etz“ seine zwei Sterne. Thoru Nakamura hat zwar gerade erst eröffnet, kann sich aber schon über – für seine Qualitäten recht selbstverständliche – zwei Sterne freuen. Beim „Tantris“ bleibt man erst einmal – wie unter Hans Haas – trotz allerlei Hype bei zwei Sternen. Eine besondere Freude für mich und Port Culinaire ist der zweite Stern für den exzellenten Thomas Imbusch vom 100/200 in Hamburg (kürzlich zu lesen als Avantgarde-Feature in „Port Culinaire“).
Nicht bei allen auf der Liste der Kandidaten für drei Sterne dürfte Thomas Schanz vom gleichnamigen Restaurant an der Mosel sein. Der Schüler von Helmut Thieltges hat sich in den letzten Jahren stetig nach oben gearbeitet. Ich komme später ausführlicher darauf zu sprechen, gratuliere ihm aber schon einmal ganz speziell.
Lieber Herr Dollase, ich empfehle dringend noch einmal Ihren fulminanten Beitrag zu der letztjährigen 50best zur Lektüre. Dieser Text liest sich geradezu als Blaupause für die Abwertung der Vendome.
Ausgangspunkt Ihrer Analyse war die Frage, wieso Joachim Wissler binnen 10 Jahren aus den Top 10 ins Bodenlose stürzen, das Steirereck sich dort hingegen behaupten konnte. Sie machen in erster Linie stilistische Defizite in der deutschen Spitzenküche verantwortlich. In Deutschland regiere die „Michelin-Küche“ die nur handwerkliche Aspekte im Auge hätte. Dies würde die deutsche Spitzenküche noch retten, könne aber bei einer Kurskorrektur des Michelin jederzeit zu Abwertungen führen. Sie selbst halten von dieser rein handwerklich orientierten Bewertung offenbar wenig und schlagen selbst ein System vor, das stilistische Aspekte in den Bewertungen berücksichtigt.
Wenn Sie nun zur Abwertung Wisslers schreiben:
„Es handelt sich bei der Einschätzung von Wisslers Küche offensichtlich nicht um handwerkliche Probleme, sondern eher um stilistische Fragen…Diese Erbsenzählerei … ist in der Hand eines Führers ein Übergiff in den stilistischen Bereich, der nie und nimmer stattfinden dürfte…Es kann nicht die Aufgabe eines Führers sein, über Stilistik zu befinden.“
muss man kein Verschwörungstheoretiker sein, um festzustellen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.
Es ergibt sich ein interessantes Bild, wenn man verschiedene Beiträge hier im Zusammenhang liest:
Da wird einerseits in einer (bisher) dreiteiligen Riehe von Beiträgen über die „sensorische Struktur“ philosophiert. Im Ergebnis – dem ich zu 100% zustimme – läßt sich die Aussage dabei für mich zusammen fassen „Wichtig ist auf’m Platz und es gewinnt der mit den meisten Toren und nicht der mit den schönsten Dribbling“ – man verzeihe mir meine Anlehnung an die profane Fussballersprache.
Mit fast exakt dieser Begründung – natürlich ohne die dollasesche Wortschöpfung „sensorische Struktur“ zu verwenden – wird nun Hrn. Wissler ein Stern aberkannt. Nach Meinung der Inspektoren des Guide sind seine Gerichte offenbar auch so komplex geworden, das es selbst für solch geschulten Esser wie ebenjene Inspektoren schwierig wird mit der sensorischen Struktur. Und man kann von den Testern halten was man will, aber sicher sind sie erfahrenere Esser als der durchschnittliche Restaurantbesucher.
Das ist eigentlich etwas zum feiern! Auch wenn es eine der Ikonen der deutschen Kochkultur erwischt.
Man fragt sich – warum ein Neustarter TANTRIS zwei Sterne bekommt. Man sollte sich erst hocharbeiten!!! Dieses würde ich auch als Fehlgriff bewerten! Wir sind Gäste schon seit 30 Jahren – unser Besuch im neuen TANTRIS – das war nix! Ein super Tip HAERLIN und BIANC in HAMBURG müssten dann 3 Sterne erhalten. Die Tester vom Michelin sollten besser auf den Tisch und Teller sehen.
Man sollte den Michelin nicht so kompliziert betrachten, ich meine er möchte auf sich aufmerksam machen und wie ginge das besser als einem ganz Großen abzuwerten. Beispiel H Schiffchen, Häberlin, Wissler . Der Michelin muss Bücher verkaufen und Umsatz machen.
Vollkommen richtig! Meine Frau und ich waren Anfang November im Tantris DNA. Siehe meine Bewertung auf Tripadvisor „Enttäuschend!“ Niemals ein Stern wert. Frage mich auch aufgrund anderer negativer Bewertungen – die eindeutig die Qualität der Küchenleistung kritisieren -, wie der Michelin einen Stern vergeben kann. Auch die zwei Sterne für das Menü-Restaurant sind fragwürdig. M. E. spielen hier für die Sternevergabe andere Gründe eine Rolle (Einfluß der Besitzer Familie Eichbauer?)
Über das hohe Preisniveau im Tantris DNA kann man reden, aber wenn das Restaurant keinen Stern verdient hat, dann müsste man paar Dutzend Restaurants in Deutschland den Stern wegnehmen.
Auch wenn jetzt einige Krokodilstränen vergossen werden, Tatsache ist doch, dass Wissler auch an dieser Stelle schon seit geraumer Zeit keine Rolle mehr gespielt hat. Das Pfeifen im Walde war unüberhörbar. Daran änderte auch die Ehrung in der FAS Ende des Jahres nichts – im Gegenteil. Wir erinnern uns: Nils Henkel wurde ebenfalls zum Koch des Jahres gekürt just bevor er seinen dritten Stern verlor. Diese Freundschaftsdienste an der Althoff Gruppe sollten wohl noch einmal helfen, das Desaster zu verhindern, erwiesen sich dann aber als bacio della morte.
Wer nun freilich glaubte, dass die Ausbootung eines altgedienten Koches ein Schritt hin zu mehr Modernität bedeuten könnte, wurde bei einem Blick auf die Speisekarte des neuen Dreisterners schnell eines besseren belehrt. Gang 1 des Menüs: Gänselebertorte…
Lieber Marius, das ist ziemlich durcheinander, was Sie da kombinieren, eine Art kulinarische Verschwörungstheorie…Mit der Ehrung von Wissler war es zum Beispiel völlig umgekehrt: ich hätte ihn längst als Koch des Jahres ehren müssen und habe es verschoben, weil ich eben den Eindruck vermeiden wollte, dass es zwischen dem Veranstaltungsort und der Ehrung einen Zusammenhang gibt… Mit Wissler habe ich seit seinem ersten Tag in Bensberg enorm viel Dinge gemacht, u.a. eine Serie für ZDF-Aspekte. Ich weiß, was er kann und wie er kocht.
Seitdem Michelin med Instagramfoodies zusammanarbeitet, und kommersiellt denkt, kan man die Benotungen nicht mehr nachvollziehen. Die qualitet Masstäbe im internationellen kontext sind ein Skandal……man hat verschiedene preferenzen von Land zu Land…….
Ein volles Restaurant mit zufriedenen und gluecklichen Gästen ist das Mass Aller Dinge.
Kann Herrn Dollase nur zustimmen!
Ich habe die Entwicklung von Herrn Wissler jetzt über ein viertel Jahrhundert regelmäßig verfolgt (wir haben 1997 bei ihm geheiratet und gehen seither zu jedem Hochzeitstag zu ihm) und es ist faszinierend zu sehen, wie er sich über all die Jahre entwickelt hat. Für uns ist eines ganz klar: So souverän wie heute war er nie! Nichts auf seinen Tellern ist in irgendeiner Weise „Versuch“ oder „Experiment“, sondern alles in Perfektion durchdacht und stimmig. Vielleicht ist diese Souveränität, diese Stimmigkeit, dem Michelin ja zu „langweilig“ – für uns ist es purer Genuss ohne die anderenorts so oft zu erlebende genialische Selbstdarstellung des Chefs. So gesehen: Was bei Wissler heute auf den Tisch kommt ist „l’art pour l’art“, Perfektion statt Lautstärke. Schade, dass es dafür offensichtlich nicht überall verständige Gaumen gibt!
Ich kann ihren Unmut über die Aberkennung des dritten Sterns von Wissler zwar nachvollziehen, muss Ihnen aber leider – natürlich in vollkommen subjektiver Sichtweise – widersprechen. Die Dinge, die von Michelin hier angesprochen werden, das zu kleinteilige und zu wenig fokussierte, musste ich leider auch bei meinem letzten Besuch konstatieren. Ob das nun den Entzug des dritten Sterns rechtfertigt, ist wieder eine andere Frage, zumal Sie sicher recht haben, und vom Michelin nicht konsequent mit denselben Maßstäben gemessen wird (man denke nur an die Diskussion um die Bewertung von Paul Bocuse) und auch vielen (vor allem französischen) Köchen ein Stern aberkannt werden müsste (die durchaus härtere Bewertung von Köchen in DEU und Ö vis-à-vis FRA ist ja bekannt). Auch ich würde mich ärgern, wenn ein mir besser bekanntes Lokal abgewertet werden würde. Allein: leider trifft das auf viele Lokale zu, die (in DEU und Ö seltener) unter- oder überbewertet sind. In Österreich gibt es dazu das Argument vieler Kritiker, dass das Steirereck schön längst drei Sterne verdienen hätte (auch im Kontext mit der Amador Aufwertung) – ich meine hingegen: man könnte drei Sterne vergeben, die Michelin Wertung ist aber durchaus vertretbar. Der Michelin bleibt unter dem Strich eine subjektive Bewertung, die zwar im Einzelfall für einen Koch (im Falle der Abwertung) eine Katastrophe sein kann, aber in Summe durchaus rechtfertigbar ist. Das bittere (und hier sind wir wieder bei unterschiedlichen Maßstäben) ist natürlich, dass eine (Wieder-)Aufwertung von zwei auf drei Sterne so gut wie nie erfolgt.
Herr Winkler hatte es mal geschafft die ☆☆☆ erneut zu kochen…
Ist mir völlig unverständlich ihre kritik. Zumal ihre Meinung ja diesbezüglich ganz hinten anzustehen hat,,,, Die michellin tester wissen schon warum.
Vollumfänglich Ihrer Meinung.
Mich wundert es auch keineswegs und war schon länger überfällig, warum hier Herr Dollase hier so in die Presche springt ist mir mehr als unverständlich. Man kann das Lebenswerk respektieren, aber das rechtfertigt nicht für immer 3 Sterne.
Sehr geehrter Herr Gerhard R.!
Teile ihre Meinung nicht auch wenn wir extrem ähnlich heißen;-)
Herzlichst
Gerhard Retter
Bin da ganz anderer Meinung Herr Gerhard R.
Herzlichst
Gerhard Retter
…ich habe mir tatsächlich überlegt, ob Sie das sind. Und bin froh, dass Sie das nicht sind 😉