Der Begriff „Kreativität“

Vorbemerkung
Der Begriff „Kreativität“ ist im kulinarischen Bereich ausgesprochen schillernd. Einerseits wird er von jedem auch nur einigermaßen besseren Koch gerne genutzt, andererseits muss man immer damit rechnen, dass wirklich innovative Leistungen die Kochszene spalten. Gibt es Grenzen für kulinarische Kreativität? Steht kulinarische Kreativität immer in Verbindung mit einer Vorstellung von Qualität? Gibt es überhaupt eine zumindest ansehnliche Zahl von Leuten, die kulinarische Kreativität wirklich einordnen können?

Es geht oft drunter und drüber. Weil aber die Verknüpfung (oder auch Nicht-Verknüpfung) von „Kreativität“ mit bestimmten Küchen häufig deutliche Auswirkungen hat und die Szene nicht zuletzt mit diesem Begriff strukturiert wird, scheint es mir dringend angeraten zu sein, den Begriff einmal wieder grundsätzlich zu diskutieren. Ich werde das in zwei Folgen tun.

KULINARISCHE KREATIVITÄT I:
WIDERSPRÜCHLICHES, UNGENAUES UND GEFÄLSCHTES

Das „Geschäft“ mit dem Begriff „Kreativität“
Den Nicht-Kennern kann man anscheinend jahrelang alles Mögliche verkaufen. Ein Beispiel: Ich erinnere mich an eine Zeit, in der plötzlich irgendwo Tonka-Bohnen verwendet wurden. Es dauerte nicht lange, da hatten sich Rezepte mit Tonka-Bohnen über das ganze Land verbreitet, und Köche, die mit Tonka-Bohnen arbeiteten, galten als besonders kreativ. Das Gleiche passierte zum Beispiel auch mit Stickstoff-Nebeln oder fermentiertem schwarzen Knoblauch – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Es ist klar, dass viele der Köche keine eigene kreative Leistung vollbracht, sondern sich einer modischen Zutat oder Kochtechnik bedient haben. Dennoch galten und gelten sie als kreativ.

Dieses Phänomen paßt gut in die deutsche Landschaft – um nicht zu sagen: leider ganz besonders gut. Unkundigen auf dem „platten Land“ die Erfindungen der Kochkunst auch noch Jahre nach ihrer Entwicklung nahe zu bringen, ist die eine Sache. Die andere ist, dass man sie auch vielen Medien verkaufen kann, weil es dort an Spezialisten fehlt, die – wie in anderen Bereichen – in der Lage sind, die Spreu vom Weizen zu trennen und ein realistisches Bild von kulinarischer Kreativität zu zeichnen. Und so machen viele munter ihr Geschäft, und die wirklich Kreativen der Kochwelt werden nicht nur oft nicht wirklich gewürdigt, sondern kommen bisweilen sogar in wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes kein Verständnis finden.

Kreativität als subjektiver Eindruck
Es ist denkbar, dass ein Koch sich hinsetzt, ein neues Gericht entwickelt und eine Lösung findet, die er beim besten Wissen und Gewissen für absolut neuartig hält. Er setzt das Gericht auf die Karte und muss wenige Tage später irgendwo lesen, dass diese Idee ganz offensichtlich bei Koch X „geklaut“ ist. Koch X habe das schon vor 4 Jahren so gemacht.
Was ist da passiert? Hat unser Kreativer irgendwo unbewußt etwas mitbekommen, und ist er genau so kreativ, wie derjenige Koch, der das Element anscheinend erfunden hat?

Die Einschätzung, es mit einem kreativen Element oder Gericht zu tun zu haben, entwickelt sich häufig ausgesprochen subjektiv. Das gilt nicht nur für Köche, sondern vor allem auch für die Gäste, die in der Regel nur zu einem geringen Teil Spitzenrestaurants der kreativen Art kennen und im grunde Alles für kreativ halten, was sie noch nicht kennen. Das wäre kein Problem, wenn nicht sowohl bei Köchen wie bei Gästen dieser subjektive Eindruck schnell zu einer (objektiven) Feststellung wird und in den Prozess der Kommunikation über kulinarische Leistungen eingeht. Diese mangelnde Rückkoppelung von subjektiven Einschätzungen an objektive Gegebenheiten ist ganz entscheidend mit dafür verantwortlich, dass wir heute bei uns einen ausgesprochen diffusen kulinarischen Kreativbegriff finden. Die Zuschreibung „kreativ“ gibt es bis hinein in Rezepturen, wie sie von den Discountern veröffentlicht werden. Der Begriff ist also allgemein massiv entwertet.

Der Begriff „Kreativität“ braucht den Vergleich – aber…
Die Zuschreibung von Kreativität an kulinarische Leistungen hat ja nicht zuletzt die Aufgabe und den Wert, das Besondere vom eher schulmäßigen, unreflektierten, uninspirierten und einfallslosen zu unterscheiden. Was kreativ ist, setzt besondere Reize und schafft – im Falle einer gut entwickelten Kreativität und der nötigen Akzeptanz beim Publikum – eine erweiterte Dimension des Genusses. Grundlage für eine solche Zuschreibung sind Vergleiche, die von Leuten angestellt werden, die solche Vergleiche aufgrund ihrer Informationslage leisten können.

Die Tücke liegt da, wo sich die Möglichkeit des Vergleichs und eine mehr oder weniger verfestigte Vorstellung von Kochkunst in die Quere kommen. Wer glaubt zu wissen, was Kochkunst ist, kann schnell in eine Abwehr-Position geraten, in der alles, was seine Vorstellung bedrängt, aussortiert wird. Andererseits ist es auch vorstellbar, dass eine gewisse hysterische Suche nach dem kulinarisch „letzten Schrei“ eine Einordnung kreativer Aspekte so stark verfärbt, dass sie ebenfalls sinnlos wird.

Kreativität zwischen Optik und Geschmack
Es gibt wohl kaum einen Freund kreativer Küche, der auf ungewöhnliche Bilder von Gerichten nicht mit einem „da sieht aber gut aus“ (o.ä.) reagiert. Das klingt verständlich und völlig harmlos – ist es aber leider nicht mehr. Die Flut der Bilder bei Facebook und Instagram etc. hat gerade bei der kreativen Küche zu einer Ablösung des Geschmacks durch Bilder geführt. Das Bild kommuniziert, ob es sich um moderne und/oder kreative Küche handelt, und jeder, der ebenfalls modern und kreativ kochen will, orientiert sich an diesen Bildern. Die Trennung der geschmacklichen von der optischen Ebene ist eines der Grundübel der modernen Kommunikation über Essen. Dass ein Gericht konventionell aussehen und trotzdem sensationell kreativ und modern schmecken kann, scheint kaum noch möglich zu sein.

Und wieder muss man festhalten, dass dieser Trend mittlerweile bis zur Arbeit der Discounter reicht. Ich erinnere mich noch, dass ich vor einigen Jahren einmal auf einem Bahnsteig in Düsseldorf stand und von einer Werbung wirklich überrascht wurde. Ich sah auf einmal ein Gericht auf einer der automatischen Werbetafeln, das mich sehr an ein Gericht der neuen Regionalküche erinnerte. Ich blieb stehen und wartete, dass es wieder erschien – nur um festzustellen, dass es Werbung für einen unserer großen Discounter war. Am nächsten Tag besorgte ich mir Prospektmaterial und die Rezepte. Sie waren banal, nichts Besonderes, zusammengesetzt aus den „Zeichen“ zeitgenössischer Küche. Dieser Discounter benutzte im Prinzip genau die gleichen Mechanismen, die auch sonst dafür sorgen, dass Foodporn den Geschmack ersetzt.

In der zweiten Folge mit dem Titel „Kreativität hat viele Gesichter“ wird es darum gehen, dass eine seriöse, klare Einordnung von Kreativität mittlerweile auch den Profis schwerfällt. Es wird auch darum gehen, welche Köche man bei uns wirklich als kreativ bezeichnen kann und warum dies so ist. Die Beispiele werden Sie vielleicht überraschen.

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