Quellen für kulinarische Inspirationen oder Forschungen gibt es viele, und sie finden sich manchmal an ungewöhnlichen Stellen. Für den Bereich der traditionellen Küche zum Beispiel kann man sich in alten Kochbüchern, Zeitschriften, manchmal aber auch ganz „normalen“ Quellen wie älteren Jahrbüchern und Magazinen umsehen, die man üblicherweise als kulinarische Quelle überhaupt nicht im Visier hat. Mich interessieren diese Dinge aus verschiedenen Gründen. Einmal natürlich wegen der kulturgeschichtlichen Bedeutung. Eine solche Sehweise unterscheidet ja nicht unbedingt zwischen einfacher Küche und Spitzenküche, sondern interessiert sich für alle Richtungen und Qualitäten. Der zweite Aspekt ist der Blick auf Traditionen als Quelle für Inspirationen, und dort besonders für Inspirationen in Richtung auf Neubearbeitungen, Interpretationen usw. Ein ganz furchtbar altertümliches oder schlechtes Rezept kann manchmal Ausgangspunkt für hochinteressante Ideen sein.
Diese Art der Arbeit ist manchmal etwas leichter, manchmal etwas schwerer. Wenn man ein gutes, älteres Kochbuch einer Region mit viel Tradition hat (sagen wir: ein bayerisches Kochbuch) fällt es in der Regel nicht schwer, Ansatzpunkte für Optimierungen oder Interpretationen zu finden. Man hat meist den Eindruck, dass immer so gekocht wurde, dass es gut schmeckt – vielleicht manchmal etwas rustikal, extrem kalorienreich, aber eben immer so, dass man sich einen guten Geschmack vorstellen kann. Es kann geradezu Spaß machen, mit solchen Rezepten einmal etwas zu „spielen“.
Nun aber ist mir in Frankreich ein Buch in die Hände gefallen, das alle Vorstellungen von Rustikalität/Grobheit übertrifft. Es stammt von einem Verlag, dessen Produkte ich schon seit vielen Jahren immer wieder in die Hand nehme, sie aber genau so schnell auch wieder aus der Hand lege, weil sie mich irgendwie nicht richtig erreichen. Die Bücher finden sich in fast jedem Buchgeschäft, oft sogar in Zeitschriftenläden, wo sie irgendwo zwischen den regionalen Publikationen stehen. Hier aber erst einmal der Titel:
Sylvianne Léveillé: La Cuisine Des Flandres (Gisserot – Gastronomie). Editions Jean-Paul Gisserot, Paris 2004. 128 S., Broschur, 5 Euro (in französischer Sprache)
Das kleine Buch überrascht erst einmal durch Fotos, die wie aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Sie sind zum größten Teil offensichtlich mit einem frontalen Blitz gemacht worden und sehen manchmal wirklich schlecht aus. Die Teller stehen meist zwischen Küchenutensilien und da ganze wirkt unter heutigen Gesichtspunkten bestenfalls wie eine Sammlung von Notizbildern. Man hat sich also nicht viel Mühe gemacht. Andererseits fällt ebenfalls sofort auf, dass die inhaltliche Breite groß ist und es offensichtlich gelungen ist, wirkliche Traditionen einzufangen und nicht Irgendetwas – wie das häufig der Fall ist – mit einem bestimmten Herausgeber-Konzept zu konstruieren. Ich erinnere mich an bayerische Kochbücher mit traditionellen Rezepten, bei denen die Rezepte sehr deutlich nach alternativem Neo-Schickimicki aussehen, nicht aber nach traditioneller Küche. Wer Flandern kennt, wird wissen, dass es dort noch überall kleine Restaurants oder Kneipen mit Essangebot gibt, die auf einem ganz einfachen Level arbeiten und – sehr wichtig – oft auch noch eine traditionelle Kundschaft anziehen. In viele dieser Etablissements verirrt sich jedenfalls kaum jemals ein Tourist, sie wirken einfach zu „einheimisch“. In solchen Zusammenhängen kann man sich die Entstehung des Buches und der Rezepte vorstellen. Bei uns ist so etwas jedenfalls mittlerweile kaum noch irgendwo zu finden.
Diese Authentizität bestimmt auch die Rezepte. In dieser Sammlung hat die Haute Cuisine kaum irgendwelche Spuren hinterlassen. Hier geht es fettig, direkt, schnörkellos und so zu, wie es vermutlich schon vor vielen Jahrzehnten gemacht wurde. Hier aber erst einmal ein paar der Rezepte:
Salat von Rotkohl und Hering, Chicoreetarte aus der Gegend des Pas-de-Calais, Kabeljau nach Art von Boulogne (ein Fischgericht, das braun aussieht und von angerösteten Kartoffeln, viel starkem Senf und einer Garung im Ofen von 45 Minuten/200° geprägt ist, der Fisch dürfte danach quasi reduziert sein), Kabeljauschnitten à la bière (auf dem Bild ist der Fisch von einer zäh wirkenden Mehlschwitze bedeckt), Huhn mit geschmorten Endivien, Kaninchen mit Wacholder, Zunge „Lucullus“ (eine Terrine, die überraschend auf traditionelle Luxuszutaten setzt und das in klassischer Machart – Zunge mit Foie gras, viel Butter, Trüffeln, Porto, Cognac), Eintopf aus Hainaut (Speck und Wurst) oder „Wirsing nach flämischer Art“, der mit diversem Geflügel kombiniert wird, das jeweils einer heftigen Garung unterzogen wird und oft aussieht, als ob man es gegen Ende der Garung noch einige Zeit über offenem Feuer „verbrannt“ hätte.
Kochtechnisch regiert auch in dieser Region die „Hausfrauenküche“ vergangener Zeiten, die ja durchaus nicht unkomplex ist und oft weit entfernt von schnellen, kurzen Zubereitungen, wie sie heute populär sind. Das wesentliche Merkmal dieser flämischen Rezeptsammlung ist eine Geschmacksvorstellung, die aus heutiger Sicht durch und durch rustikal bis grob ist. Quasi jedes Produkt wird stark behandelt – entweder durch lange und sehr kräftige Garungen oder durch die Zugabe von intensiven Aromen oder vieler Fette. Garstufen unterhalb des Durchgegarten scheinen keine Rolle zu spielen, Röstnoten dafür immer wieder eine sehr große. Und weil der Fisch als solcher nun einmal kein besonders kräftiges Aroma hat, wird er so stark behandelt, dass er in das Bild dieser Küche passt.
Fazit
Es ist merkwürdig: man liest diese ganze Versammlung von Grobheiten und fühlt sich dennoch irgendwie inspiriert. Die Frage, was man denn exakt aus dieser Landschaft extrahieren könnte, ist allerdings schwierig zu beantworten. Ich vertrete ja immer die Meinung, dass alle Produkte zusammenpassen und man nur die geeignete Stelle/Schnittmenge finden muss. Dabei bleibe ich auch hier, auch wenn es schwierig wird. Man sagt ja immer wieder, dass die Menge das Gift macht, und es vorher sehr angenehm sein kann…Nun, dann muss man einmal sehen, wie man das Huhn mit den geschmorten Chicoree und dem geräucherten Fisch unter ein Dach bekommt.
Das Buch ist also eine echte Herausforderung. Die Küche wird bei uns wohl kaum zum direkten Nachkochen anregen, hat aber ein wirklich markantes Profil. Für Spezialisten aus der Nova Regio/Radikal Regional-Abteilung.
Das Buch ist als Buch kein gutes Buch. Es bekommt 1 rotes B
Fotos © Sylvianne Léveillé /Editions Jean-Paul Gisserot
Ich besitze auch einige dieser kleinen Büchlein der französischen Regionalküche, und immer in der gleichen Machart mit hoffnungslos veralteten Fotos. Bei vielen Radtouren im Elsass, der Bourgogne oder der Loireregion habe ich diese Küche aber auch en réalité unterwegs erlebt und es war nicht immer ein reines Vergnügen. Auch in Douce France gibt es Küchen-Parallelwelten.
Verräter!
Gruß aus dem Süden des Finistère.
Als ich die Bilder sah, da dachte ich sofort an meine Schulbüchern aus den 1980er Jahre mit hammergeile Buffets, das Essen war schon gut, die Bilder hatten damals eine ähnliche Beleuchtung wie im Artikel-Buch. Damals ja damals war es normal heute drehen die Äugelein.
Jedoch genau wie du im Fazit geschrieben hast, irgendwas ist da, was mir sagt; Koch es und mache „neue“ Bildern. Herausforderungen gibt es ja kaum noch… Na ja hier in Griechenland sicherlich und bin davon überzeugt solch ein ähnliches Buch hier zu finden.
„Es muss nicht immer Kaviar sei“ (Mario Schimmel)