Das große Buch der Kochbücher und Meisterköche. Mit Originalrezepten von der Antike bis 1900. Gräfe und Unzer Verlag, München 1977. 224 S., geb., Ganzleinen im Schuber. (antiquarisch noch erhältlich)
Der erste Eindruck ist ganz klar und in gewisser Weise auch radikal: ein exzellentes Buch wie dieses, das ein komplexes Thema mit Unmengen von Quellenauswertungen und Unmengen von prächtigen Illustrationen bearbeitet, dass dazu noch gleichzeitig populär aufgemacht und wissenschaftlich korrekt (u.a. mit großer Bibliographie) gemacht ist, scheint heute kaum noch möglich zu sein. Natürlich würde man auch heute noch die Leute finden, die zu so etwas in der Lage wären. Ob ein Verlag das dann allerdings finanzieren würde, wage ich zu bezweifeln. Und wenn ich sehe, welch schwache Qualitäten von kulinarischen Büchern in den Buchhandlungen zu finden sind und dass selbst in den größten von ihnen Bücher von (kreativen) Spitzenköchen einfach nicht vorhanden sind, glaube ich auch nicht, dass sie in der Lage wären, so etwas auch zu verkaufen.
Man muss diese Veröffentlichung aus der Zeit heraus verstehen. Im Jahre 1977 herrschte in Deutschland eine Art kulinarischer Aufbruchsstimmung. Im Zusammenhang mit der Nouvelle Cuisine und einer Art neuem Bürgertum entwickelte sich ein großes Interesse an kulinarischen Themen, und das in der vollen Breite. Im Gegensatz zu heute gab es auch ein großes Interesse an – sagen wir: feuilletonistischen Themen. Selbst die Essenszeitschriften kümmerten sich bei weitem nicht nur um Rezepte, sondern auch um alle möglichen angrenzenden und vertiefenden Themen. Es herrschte sogar teilweise eine Achtung vor großen kulinarischen Themen und Persönlichkeiten, wie wir uns das heute kaum vorstellen können. Insofern passte ein solches Buch damals ganz normal in die Szene. Auch ein Titel unter Verwendung des Begriffes „Kochkunst“ wurde damals ganz selbstverständlich aufgenommen.
Das Buch
Der Inhalt ist massiv und trotzdem sehr kurzweilig gestaltet, was vor allem an der dichten Folge von Bildern und Rezepten liegt. Es gibt viele Zwischenüberschriften und keinerlei längere Textstrecken. Die Darstellung reicht von der Antike über das Mittelalter, die Renaissance bis zum Barock, dem Rokoko und dem 19. Jahrhundert und entwickelt sich entlang der Kochbücher bzw. den schriftlichen Quellen, die es im Laufe der Geschichte gab. Es geht also nicht um eine Art Archäologie des Essens, sondern um die Kochkunst, die es zu allen Zeiten und in einer Form gab, die uns gerade heute, in einer Zeit großer kreativer Freiheit, wieder sehr interessieren kann. Uns ist vielfach das Verhältnis zur Geschichte der Kochkunst ja völlig verloren gegangen. Natürlich gab es zu jeder Zeit Rezepturen und es gab zu jeder Zeit eine Küche der höfischen Art, also die Forderung von Herrschern, Adel oder reichen Privatleuten, das Beste auf den Tisch zu bekommen. Und dabei gingen die Köche immer schon in die kreative Abteilung oder bedienten sich mancher Techniken, die heute sofort aufhorchen lassen – wie die ägyptische „Gans in glühender Asche“ gleich zu Beginn des Buches.
Es macht natürlich wenig Sinn, die 210 Kapitel (!) des Buches aufzulisten. Deswegen hier nur eine kleine Sammlung von Themen und Personen. Da staunt man etwa über die „erstaunliche Vielfalt von Gemüse“ bei den Römern, berichtet vom französischen Poitiers als Wiege der Kochkunst schon in vor-karolingischer Zeit, über „Getränke auf der ritterlichen Tafel“, über „Gewürzkräuter aus dem Garten und dem Wald“ im Mittelalter. Es geht um Festmähler zu allen Zeiten, um Küchen und Küchengeräte in der Renaissance und dann langsam aber sicher um die Entwicklung von kunstvollem Essen, das schon früh eine Ähnlichkeit mit heutigen Rezepturen hatte. Mehr und mehr geht es auch nicht mehr vor allem um Adel und Klöster, sondern um ganz normale Leute, und schließlich landet man im Wien um 1900 als Abschluss der Betrachtungen.
Die großen Namen der Kochgeschichte sind alle vertreten – in der Regel auch mit Rezepturen, die auf farbigen Blättern in der üblichen, meist sehr knappen Darstellung ihrer Zeit wiedergegeben sind. Das Spektrum reicht von Apicius über Taillevent und Platina, von Bartolomeo Scappi zu Vatel und la Varenne, von Grimod de la Reynière zu Caréme, Brillat Savarin, Escoffier, Dumas, Rumohr und Henriette Davidis. Man wird alle Namen finden, die man üblicherweise kennt und darüber hinaus noch eine Menge weiterer.
Bei den Rezepten gibt es vor allem Angaben von Köchen, die bereits gute, nachvollziehbare Rezepturen hinterlassen haben. Das Garum von Apicius ist dabei, seine gekochten Langusten oder gebratene Haselmäuse oder Siebenschläfer. Aus der mittelalterlichen „Küchenmeisterei“ stammt das Gebäck von Kälberlunge, Schweinefleisch in Salbeisauce oder Rezepte für Kichererbsen. Von Marx Rumpolt (1604) gibt es gefüllte gelbe Rüben, oder ein „Abendessen aus Ochsenfüßen“ und schon bei La Varenne (1651) taucht eine Gänseleberpastete in der Asche, ein Kalbsfrikassée oder Rahmspinat auf. Und dass es im 19. Jahrhundert schon von Rezepturen wimmelte, die wir bis heute kennen, liegt natürlich vor allem an Dumas und Escoffier.
Fazit
Das Buch ist wirklich enorm interessant und dabei ganz unmerklich auch noch sehr anregend. Man ertappt sich beim Lesen immer wieder dabei, dass man die Rezepte mitdenkt oder weiterdenkt. Gerade heute, wo man sich nach langen Jahren der Reduktion der Kochkunst auf immer weniger Produkte und Zubereitungen wieder allen möglichen Techniken aus der Geschichte nähert und versucht, das Spektrum radikal auszuweiten, ist ein solches Buch die reinste Fundgrube für neue Ideen.
Dabei wird man schnell feststellen, dass sich der Hochmut gegenüber „primitiven“ oder „bizarren“ Rezepten schnell legt und einer großen Achtung für den Erfindungsreichtum unserer Vorfahren Platz macht. Und die hatten eben keinen gut bestückten Supermarkt an der Ecke…
Wenn Sie eben können, sollten Sie sich das Buch beschaffen. Es ist noch erhältlich und noch nicht einmal besonders teuer. Ich habe mein Exemplar für 15 Euro gekauft.
Das Buch bekommt natürlich 3 grüne BBB – natürlich auch für den kreativen Inhalt – sozusagen.
Illustrationen © Gräfe und Unzer Verlag abfotografiert von Jürgen Dollase