Bild und sensorische Struktur, Folge I, Mauro Colagreco, Christian Hümbs

Die Bilder der Gerichte von Clare Smyth vom „Core“, die ich anlässlich der Rezension ihres Buches ausgewählt hatte, haben eine ganze Reihe von Kommentaren angeregt. Ich hatte meine Bedenken geäußert, dass ein Zuviel an Blättchen und div. anderen Partikeln die eigentlichen Produkte eines Gerichtes schnell überlagern könnten und insofern eine „schöne“ Optik oft mit einer nicht besonders optimalen sensorischen Struktur „erkauft“ wird. Aus diesem Grunde möchte ich mit Hilfe einiger Bilder und Gerichte einmal ein wenig für die sensorische Struktur sensibilisieren. Man sollte dabei nie vergessen, dass es bei der sensorischen Struktur nicht um möglichst viele verschiedene Texturen oder Ähnliches geht, sondern um die Art und Weise, wie die Elemente eines Gerichtes zugeordnet sind, und das nicht nur bei den Proportionen im engeren Sinne. Und weil sich das eben nur beim Essen bemerkbar macht, geht es um die Sicht aus der Perspektive derer, für die die Gerichte eigentlich gemacht sind. Die Gäste/Esser sitzen vor Tellern mit oft abenteuerlichen Kompositionen und wissen oft überhaupt nicht, wie man damit eigentlich umgehen soll, was am besten schmeckt und wie man das Potential einer solchen Komposition (und darum handelt es sich – im wahrsten Sinne des Wortes) am besten nutzt. De facto sollten sie es wissen und de facto sollten es vor allem auch die Köche wissen, weil man viele Gerichte einfach sehr, sehr ungünstig essen kann, also bei weitem nicht mitbekommt, was eigentlich an tollen Ideen in ihnen steckt.

Beide Seiten, also Köche wie Esser, können erheblich von einer guten sensorischen Struktur profitieren. Andererseits produziert eine schlechte Struktur oft blanken Unsinn. Die Analyse der sensorischen Struktur von Gerichten sensibilisiert für solche Zusammenhänge. Es wird sich zeigen, dass es alles Mögliche gibt: von Sinnlosem, das sinnvoll aussieht bis zu Sinnvollem, das sinnlos aussieht, von Gerichten, die dem Esser die eigentliche Komposition überlassen, bis zu solchen, die seine Degustation quasi komplett steuern

 

Mauro Colagreco: Tartelette von Saubohnen und Thymianblüten

 

Das Bild, das ich schon vor ein paar Tagen „anonym“ gepostet hatte (Foto: Philippe Vaurés Santamaria für YAM-Magazine), zeigt ein Gericht von. Mauro Colagreco, dem französischen Drei Sterne-Koch vom „Mirazur“ direkt an der französisch-italienischen Grenze. Das Bild des Gerichtes wirkt sicherlich erst einmal wie ein Prototyp eines kulinarisch unsinnigen Gerichtes, bei dem scheinbar Alles gemacht wurde, um ein spektakuläres Bild zu erzeugen. Es beginnt mit dem bizarren Teller und seiner durch und durch unkulinarisch-dekorativen Form und Farbe. Dann kommen Elemente, die offensichtlich mit viel Aufwand extrem dekorativ angeordnet wurden und insgesamt kommuniziert das Bild auf den ersten Blick nicht unbedingt primär kulinarische Qualitäten.

Die kulinarischen Details sind eher übersichtlich. Es gibt als Basis eine Tartelette, die man bei diesem Bild nicht sieht (ein typischer Effekt der reinen Draufsicht, die ein Gast normalerweise so nicht hat). Es gibt große Saubohnen, die präzise in dünne Scheiben geschnitten werden, eine Farce auf der Basis von Ziegenkäse mit den Parüren der Bohnen, ein „Condiment“ von Saubohnen und Pistazien mit Zitrone und Olivenöl und Thymianblüten. Die Farce kommt als größerer Punkt in die Mitte der Tartelette, dann werden die Scheiben angelegt, dann etwas Condiment in die Mitte gegeben und den Abschluss machen die Thymianblüten.

Für den Esser ist dieses scheinbar so unkulinarisch gedachte Gericht überhaupt kein Problem. Es geht um die Saubohnen, die aromatisch und texturell so begleitet werden, dass man sie pur degustieren kann, in Verbindung mit der Farce und/oder in Verbindung mit dem Condiment. Die Proportionen werden sich verschieben, die Erweiterungen bleiben aber im Geschmacksbild. Es ist sichergestellt, dass man genau das schmecken kann, was geplant ist. Die extreme Optik wird so zu einem zusätzlichen Bonus, nicht zu einer Hürde, die gutes Schmecken behindert.

 

Christian Hümbs: Crossover-Dessert

Dies ist eines der berühmt-berüchtigten Desserts von Christian Hümbs. „Berühmt“, weil sie für viele Leute eine absolut faszinierende Arbeit markierten, die auch international weitestgehend unübertroffen war. „Berüchtigt“, weil sich viele Leute aus dem konservativen Lager teilweise enorm über diese Crossover-Desserts aufgeregt haben. – Aber – ich schreibe hier nicht über Hümbs, sondern über die Sensorik, die auf den ersten Blick völlig verwirrend und ungeordnet erscheint. Man sieht eine Vielzahl von Elementen, die zu einer Art Landschaft angeordnet sind. Wie soll man so etwas essen? Was passiert beim Essen?

Es ist kein Problem, sich hier kreuz und quer durch die Landschaft zu arbeiten. Es gibt kleine Schwerpunkte, die aber nicht unbedingt im Kern stehen. Die Vielfalt der Texturen und Aromen ist so groß, dass sich unablässig neue Akkorde ergeben. Und trotzdem steckt hinter dieser essbaren Dessert-Landschaft ein Prinzip, eine enorm feine Abstimmung, die beim Essen zu einem sensationellen Ergebnis führen kann. Bei mir (ich habe sehr viele dieser Desserts gegessen) brauchte es eine gewisse Zeit, bis ich den Schlüssel für die Degustation gefunden hatte – und das, obwohl ich damals schon längst meine sensorischen Theorien beschrieben hatte. Ich hatte einfach das Gefühl, dass hier etwas ganz Besonderes möglich ist.

Die Lösung ist habe ich dann „Flow Tasting“ genannt. Man isst dabei relativ zügig und in kleinen Mengen, also nicht etwa so, dass man einen Bissen nimmt und dann den Aromen langsam hinterherschmeckt. Das „Flow Tasting“ nutzt einen bestimmten Effekt beim Essen, nämlich den des „Gewürzraums“. Was immer man isst: es bleibt im Mund ein mehr oder weniger langer und komplexer Geschmack zurück, ganz ähnlich, wie wir das vom Wein her kennen. Dieser Geschmack erzeugt. Im Grunde so etwas wie einen Gewürzraum, der sich auch noch auswirkt, wenn weiteres Essen in den Mund genommen wird. Wenn man also zum Beispiel einen intensiven japanischen Rosenessig eingesetzt hatte und als nächsten Bissen ein Stück Fisch nimmt, wird der Fisch noch mehr oder weniger viel von dem Rosenaroma abbekommen.

Diesen Effekt kann man bewusst nutzen. Er wirkt sich vor allem dann aus, wenn man relativ zügig isst, also die Wirkung des Gewürzraums ununterbrochen nutzt. Es kann dann je nach Lage/Intensität zu einer massiven aromatischen Anreicherung im Mund kommen. Typischer ist allerdings, dass sich dieser Gewürzraum fließend verändert, was man ganz klar mitbekommen kann und was ein ganz spezieller, einmaliger Effekt ist, den uns unsere Geschmackswerkzeuge da liefern. Bei Hümbs nun wirkt dieses Flow Tasting enorm gut und geradezu spektakulär, weil der Gewürzraum immer wieder neue und/oder veränderte Aromen liefert, die nie zu dominant sind oder auch von den Texturen her längere Zeit die Wahrnehmung blockieren.

Man kann diesen Effekt übrigens auch einmal mit einem sehr scharfen Currygericht probieren. Wenn Sie so etwas im Sinne des Flow Tastings essen, kann es passieren, dass Sie nach wenigen Bissen nicht mehr weiteressen können, weil sich eine erhebliche Anreicherung von Schärfe ergeben hat.

Das Hümbs-Dessert ist also nicht nur optisch enorm vielfältig, sondern auch aromatisch ein hochkomplexes Gebilde, für dessen vollen Genuss man darüber nachdenken sollte, wie man es am besten isst. Im Restaurant hatte ich damals empfohlen, den Gästen von dieser bestimmte Art der Degustation zu erzählen. Anders als bei vielen Gerichten mit diversen Mikroelementen auf Stückchen von Elementen etc. ist hier die Kleinformatigkeit Programm und kann entsprechend genutzt werden.

 

Fotos: YAM/Philippe Vaurés Santamaria (Mauro Colagreco), Thomas Ruhl (Christian Hümbs)

3 Gedanken zu „Bild und sensorische Struktur, Folge I, Mauro Colagreco, Christian Hümbs“

  1. Guten Abend, Herr Dollase, offen gesagt finde ich die Sensorik des präsentierten Colagreco nicht so unproblematisch, wie Sie meinen. Favebohnen dieser Grösse verfügen über einen erheblichen Anteil Stärke, schmecken also immer ein Stück weit mehlig. Dazu kommen je nach Sorte mehr oder weniger ausgeprägte bittere und grüne Töne. Davon eine so grosse Menge zu essen, auch in Kombination mit den ergänzenden Komponenten des Gerichts trägt eine gewisse Redunanz in sich. Hier wäre ich lieber bei C. Symth und deren kleinteiligeren Aromaräumen.

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