Auslöser für diese Analyse ist ein Text bei Zeit-Online mit dem Titel „Politisch nicht korrekt“, bei dem es vor allem um „kulturelle Aneignung“ geht, also – sehr verkürzt gesprochen – um das Nachkochen von aus anderen Esskulturen entlehnten Rezepten. Das Problem rund um die Authentizität solcher Aktionen wird dort wortreich und mit vielen Belegen dargestellt, ist aber in der Schwammigkeit der Denkweise des Autors unersprießlich und kommt letztlich nirgendwo zu einem Punkt, wo fester Boden sichtbar wird. Texte dieser Art finden sich bei der „Zeit“ leider regelmäßig. Das Thema, das im Prinzip schon seit Urzeiten diskutiert wird, ist trotzdem interessant. Ich möchte hier ein paar Dinge dazu sagen.
Vorab: ein verkürztes Zitat und falsche Schlüsse
Im Netz kursierte ein Zitat aus diesem Text, das nicht korrekt wiedergegeben ist, diskutiert wurde und dennoch kommentiert werden sollte. Hier das Zitat im Netz:
„Etwas nachkochen, das einem schmeckt, ist nicht automatisch Ausdruck von Respekt. Es wird zur Anmaßung, wenn man das Gericht ‚verbessern‘ möchte.“
Auf dieses Zitat kann man eigentlich nur antworten, dass es beim Nachkochen von Rezepten wohl kaum jemals um „Respekt“ geht, sondern üblicherweise um einen ganz klaren Nutzen, den man sich mit seinen handwerklichen Fähigkeiten verschaffen kann. Wer für Nachkochen „Respekt“ verlangt – in welcher Form auch immer – kann dies eigentlich nur vor dem Horizont einer ganz merkwürdigen Philosophie tun, die bei Kochen und Essen eigentlich nie eine Rolle gespielt hat. Das „Verbessern“ von Rezepten, oder, neutraler formuliert: das Bearbeiten von Rezepten kann grundsätzlich viele Gründe haben. Unter diesen Gründen, die zum Beispiel auch etwas mit der Form der Überlieferung zu tun haben können, sind auch immer solche, die vor allem vor dem Hintergrund kochtechnischer Fragen sehr plausibel sind. Weil z.B. viele Rezepte „künstlich“ auf vier Personen und glatte Mengenangaben abgestimmt werden, ist Optimierung ein normaler Prozess. Wenn dieser Prozess zu einer Art Subjektivierung der möglichen Qualität führt, ist „Anmaßung“ immer noch nicht der richtige Begriff. Er würde implizieren, dass die Form der Überlieferung des Rezeptes unstreitig eine gewünschte, nicht verbesserbare Qualität erbringt.
Tatsächlich lautet die Passage anders. Sie stammt aus einem Gespräch mit einer asiatischen Köchin und enthält erst eine Anmerkung des Autors, bezogen auf einen deutschen Koch, der asiatische Gerichte präsentiert, dann die Antwort der Köchin:
„Etwas nachkochen, das einem schmeckt, ist doch per se ein Ausdruck von Respekt. So kommt es aber nicht an, meint die Köchin. Für Migranten…schafft essen einen Kontakt zur Heimat. Den stört Stefan (Anm.: der Koch), wenn er Gerichte in Umlauf setzt, die Pad Thai oder Fried Rice heißen, aber nicht danach schmecken. Und erst recht dann, wenn er sich anmaßt, die Originale zu verbessern.“
So weit zu dieser Adaption von Texten aus dem Netz.
Wissen wir, was „authentisch“ ist?
Das Thema der Authentizität spielt immer wieder eine Rolle – egal, ob im Zusammenhang mit z.B. „echter Thai-Küche“ oder authentischen Rezepten einer alten Bäuerin aus einem Seitental irgendwo in den Alpen. Können wir überhaupt wissen, was authentisch ist? Oder romantisieren wir mit diesem Begriff eine Küche, die eigentlich nur in einem bestimmten situativen Kontext steht? Ist die Thai-Küche von Europa aus gesehen in Thailand authentisch, während vielleicht lokale Beobachter gleichzeitig über den Verfall der authentischen Thai-Küche klagen? Oder: wenn wir ein „authentisches“ Gericht entdeckt haben – wo ist da der Nullpunkt der Authentizität? Wurde es irgendwann einmal zum ersten Mal gekocht und war es damals authentisch, oder ist das authentisch, was sich im Laufe einiger Jahrzehnte oder Jahrhunderte daraus in einem begrenzten regionalen Rahmen entwickelt hat? Was ist ein authentisches Wiener Schnitzel? Das, was sich nach Import des Mailänder Schnitzels in Wien entwickelt hat? Und gibt es seitdem zu heute Veränderungen? Vielleicht in der Zusammensetzung des „Wiener Paniers“
Authentisch? Gedankenspiel I: Ein Beispiel von 1936
Die Abbildungen zu diesem Text stammen aus einem japanischen Buch aus dem Jahre 1936. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Gerichte ziemlich genau so aussehen wie heute und dieser Eindruck mit scharfer Hochglanz-Fotografie noch stärker wäre. Man darf vermuten, dass sich diese Bilder auf ein Geschehen beziehen, das gut zehn oder zwanzig Jahre zurückliegt. Wir reden also davon, dass die japanische Küche schon vor über 100 Jahren anscheinend genau so war wie heute bzw. es heute noch viele Restaurants gibt, die exakt die gleichen Gerichte kochen. Dann würden die heutigen Kaiseki-Küchen also eine authentisch-japanische Küche anbieten. Wenn man das Buch liest, kann man schnell auf diese Idee kommen. Aber – dieses Buch ist ein frühes touristisches Buch, es ist anscheinend für angelsächsische Touristen geschrieben, und es gibt ein Bild, das Charlie Chaplin in einem entsprechenden japanischen Restaurant in Japan zeigt. Was von heute aus gesehen für eine lange Geschichte steht, die offensichtlich ungebrochen bis heute existiert, könnte auch eine Küche betreffen, die damals wenig authentisch, dafür aber für ausländische Touristen konzipiert war – zum Beispiel weil sie sich auf einige wenige, beliebte und für Europäer gut essbare Gerichte beschränkte. Wäre das trotzdem authentisch?
Ich mache noch ein weiteres Gedankenspiel mit einem nur scheinbar ganz anderen Thema und komme dann auf die Punkte, die den Begriff der Authentizität vollends unsicher erscheinen lassen.
Authentisch? Gedankenspiel II: Wie einmal deutsche „Förderer“ ein böses Spiel mit einem Südsee-Stamm betrieben
Dieses Beispiel stammt nicht aus der Kochkunst, ist aber sehr markant. Ich habe gerade ein Buch antiquarisch gekauft, in dem es um die Asmat geht, einen Stamm/ein Volk in Neuguinea. Ein wohlhabendes deutsches Ehepaar hat sich für diesen Stamm interessiert, ihn erforscht und mit vielen Experten ein exzellentes Buch verfasst, in dem man das Leben, die Bräuche und vor allem die dabei entstehenden „Kunstwerke“ (von rituellen Gegenständen bis zu Figuren, Schilden usw.) sehr genau studieren kann. Dann hat man – zur Förderung des Stammes – etwas gemacht, das nicht nur in meinen Augen (wir haben einige sehr schöne Südsee-Stücke) eine schiere Katastrophe ist. Man hat dazu angeregt, zum Verkauf die Stücke zu kopieren bzw. auch eine Art „neue“ Ethno-Kunst zu schaffen, die – man ahnt es – ein Ausbund von verkitschter Flughafenkunst ist. In diesen Regionen (ich kenne Beispiele aus dem Sepik-Bereich) haben die „Kunstwerke“ klare rituelle Funktionen. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, wirft man sie weg. Ein Abenteurer, dem wir einige Stücke verdanken, hat uns erzählt, dass er außerhalb von Männerhäusern ganze Berge stark rußiger Teile gefunden hatte. Seine Frage, ob er diese Stücke haben könne, wurde fast ratlos bejaht. Sie waren außer Funktion, sie waren Müll, ohne „authentischen“ Wert. Wenn man nun dazu anregt, solche Stücke „als Kunstwerke“ zwecks Verkauf zu kopieren, setzt man den gesamten Mechanismus der authentischen Funktion außer Kraft. Sind sie dann authentisch, selbst wenn sie so ähnlich wie die Originale aussehen? Die Entwicklung hat gezeigt, dass solche Werke mit der Zeit aus verschiedenen Gründen immer weiter von den Originalen abweichen. Gilt so etwas analog auch für angeblich authentische Formen von Küche?
Authentizität III: die großen Schwachstellen der Überlieferung
Ja, die Diskussionen haben etwas mit dem Problem zu tun.Aber – man braucht das kaum zu diskutieren, weil die Schwachstellen der kulinarischen Überlieferung im Moment einfach sehr, sehr viele sind. Ich fasse in Stichworten zusammen, wo einige der größten Probleme liegen:
– die mündliche Überlieferung basiert oft auf Handreichungen, die keinerlei Mengenangaben enthalten und damit eine große Spannweite zulassen
– die mündliche Überlieferung sagt fast nie etwas spezifisch Reproduzierbares zu den verwendeten Produkten
– die verwendeten Produkte haben sich zum Teil im Laufe der Zeit entwickelt. Bei Gemüse wie Tieren gibt es Sorten und Zuchtstämme und insgesamt eine Vielzahl von Einflußfaktoren, die eine auch nur annähernd präzise Überlieferung unmöglich machen
– die verwendeten technischen Geräte haben heutzutage zum Beispiel völlig andere Temperaturverläufe. Was ursprünglich viielleicht über offenem Feuer gegart wurde, kann nicht mit dem verglichen werden, was mit einem modernen Herd gegart wird.
– die schriftliche Überlieferung bringt keineswegs mehr Authentizität. Die schriftliche Form verlangt vielfach Festlegungen, die viel zu ungenau sind. Das beginnt mit „geraden“ Grammangaben, geht über nicht spezifizierte Angaben zu den Produkten („Kartoffeln“) bis zu Mengenangaben, die eigentliche keine sind (1 Zwiebel)
– es fehlt vor allem bis zum heutigen Tag der Wille, bestimmte Geschmacksbilder/Rezepte präzise zum Zwecke einer möglichst genauen Überlieferung zu dokumentieren und auf diese Weise authentischen Überlieferungen zumindest nahe zu kommen. Ich habe hier auf www.eat-drink-think.de und vorher schon (grundsätzlich) in der FAZ auf diese enorme Schwachstelle hingewiesen und Vorschläge zur Dokumentation von Gerichten gemacht.
– die Vorschläge beinhalten zum Beispiel neben der möglichst präzisen Dokumentation aller technischen Parameter (i.w.S.) filmisch-photographische Dokumentationen der Herstellung, Interviews mit den Protagonisten und – sehr wichtig – genaue Degustationsnotizen aus der Hand von eigens dafür geschulten Spezialisten, um nicht nur den globalen Geschmack, sondern auch die sensorische Struktur eines Gerichtes zu erfassen.
Und weil alle Schwachstellen der Überlieferung in quasi allen Teilen der Welt bis zum heutigen Tag Gültigkeit besitzen, ist die Rede von. „authentischen Geschmacksbildern“ in jeder Form hochproblematisch. Der scheinbar griffige Verweis darauf, dass man z.B. in Deutschland keine Thai-Küche machen könne, weil es die entsprechenden Produkte hier nicht gibt oder sie hier anders schmecken, in Thailand aber alles authentisch sei, wird keiner ernsthaften Prüfung standhalten können. Mit einem Begriff wie „Authentizität“ stoßen wir in einem Fach, das traditionell und bedauerlicherweise einen beträchtlichen Theoriemangel beklagen muss, schnell an Grenzen.
Die Skepsis gegenüber „Authentizität“ ist im großen, wie im kleinen Rahmen völlig berechtigt; Ihre genaue Analyse unter Zugriff auf ethnographische Aspekte erhellend. Den großen Rahmen sehe ich beispielsweise in der Entwicklung verschiedener „chinesischer“ Küchen in aller Welt, parallel zu den Migrationsbewegungen, die eben von den Waren, aber auch von der Küchentechnik her auf ein ziemlich anderes Milieu trafen, das aber für sich nutzten. Die „amerikanisch-chinesische“ Küche ist also nicht nur eine Modulation des irgendwie Authentischen für den (vermuteten) Geschmack des Amerikaners, sondern auch die Adaption des Emigranten an das Vorgefundene. Die Globalisierung der Warenströme hat heutzutage die Sache ein wenig entspannt. Zum kleinen Rahmen nur ein Beispiel: Wie authentisch mag das Champagnersorbet von Sven Elverfeld sein? Früher kam es im Eisblock, heute im ausgesägten Flaschenboden einer Champagnerflasche; technisch noch perfekter, aber geschmacklich fehlte mir beim letzten und leider durch sämtliche Gänge enttäuschenden Besuch in diesem Frühjahr dann doch etwas.
Apropos ethnologische Methode: muß man die ZEIT lesen oder sie auch nur in irgendeinem Diskurs zur Kenntnis nehmen?
Authentizität in der Küche ist ein Marketingmittel. Wie der hiesige Begriff „Original Chinesisch“ zu lesen ist, verdeutlicht ein Perspektivenwechsel: ist „European Food“ in China annonciert, hat man aller Wahrscheinlichkeit nach die Wahl zwischen Shnitzel, Paella und – Nudeln. Die aber stammen ja ohnehin aus China …
Guten Tag zusammen. Ich bin der Autor des Artikels, vor dem hier gewarnt wird. In den Zuschreibungen „inkompetent“ und „ungebildet“ finde ich mich wieder. Auch neige ich sicher zum schwammigen Denken; man merkt das ja selber oft nicht. Aber „woke“? Das hat mich dann doch erstaunt. Denn wohin dieses Konzept beim Essen führt, steht doch recht deutlich im Text: Man kann kein Geschmacksurteil mehr fällen, ohne die Herkunft und die Lebensumstände des Kochs mitzubedenken. Für mich wäre das nichts. Trotzdem fand ich, dass auch solche Ideen es verdient haben, wohlwollend übermittelt zu werden. Den Schwamm ausdrücken kann der Leser dann schon selber.
Problem ist mal wieder das absolut unterirdische niveau, auf dem Zeit, Spiegel, SZ über kulinarische Dinge berichten. Inkompetente, ungebildete Autoren sowie das leider durchgängige MiMiMi der Zeit führen zu Artikeln wie diesen. Dabei wäre das Thema durchaus spannend und böte genug Potential für eine differenzierende Analyse. ( Stichpunkte: Implementierung Tempura in die japanische Küche, die Fusion-Welle in den 90iger-und 00-Jahren mit Andre Jäger, Bouley, Müller etc)
Lieber Herr Dollase, nun ist die woke Ideologie auch beim Kochen/Essen angekommen, und die ZEIT ist ein führendes Medium zur Verbreitung derselben. Drehen wir den Spieß doch einmal um: Dann dürften alle nicht-westlichen Länder keine moderne Medizin, Technologie etc. benutzen und wären vollkommen autofrei. Denn das alles sind Erfindungen alter weißer Männer.
Freundliche Grüße!