In Teil I am Freitag sollte klargeworden sein, dass es unter Umständen in bestimmten lokalen Zusammenhängen Produkte (und die entsprechende Küche) geben kann, die es so nur dort gibt. Ihre spezifische Qualität bekommen sie einerseits aus den Verhältnissen in der Region (also z.B. Boden, Wetter etc.), andererseits aus der Tatsache, dass die Produkte nicht durch Hinzunahme anderer Sorten/Klone „verwässert“ worden sind. Im Prinzip gilt diese für Pflanzen wie für Tiere.
Aus meinem FAS-Text über „Alte Gemüse“ kommt die Analyse und Erinnerung daran, dass wir bei Einkauf und Umgang mit den Produkten auf einem oft sehr uninformierten, wenn nicht sogar naiven Level denken. Da bekommen wir vielleicht ein Rezept von einem süditalienischen Koch in die Hand und wollen es nachkochen. Er schreibt 3 vollreife Tomaten vor, und wir denken dann an der Supermarktheke oder auf dem Markt auch noch intensiv darüber nach, ob denn die angebotenen Tomaten wirklich vollreif sind. Tatsächlich arbeitet jener Koch vielleicht mit einer Sorte, die es seit Urzeiten nur dort gibt, die immer dort vermehrt wurde, mit unserer Supermarkttomate kaum eine Ähnlichkeit hat und vollkommen anders schmeckt.
Aus diesen Feststellungen (bitte im Detail gegebenenfalls noch einmal nachlesen) ergeben sich eine ganze Reihe von Fragen und Konsequenzen, die ich hier stichwortartig ansprechen möchte.
Was passiert, wenn in Hamburg ein Koch ein südfranzösisches Ratatouille kocht?
Er reproduziert die Oberfläche eines Rezeptes, erzielt aber definitiv kein authentisches Gericht der südfranzösischen Küche – so sehr er sich auch bemüht. Es kann sein, dass seine Gemüse aus fünf oder mehr verschiedenen Ländern kommen – vielleicht zum Teil aus Marokko, Südspanien oder aus Schleswig-Holstein. Dass sein Gemüse aus komplett andere Sorten besteht, als dies in Südfrankreich der Fall ist, ist sehr wahrscheinlich. Dass er zufällig das gleiche Material benutzt wie ein Koch in Südfrankreich, ist quasi unmöglich. Das Ergebnis mag oberflächlich Ähnlichkeiten haben, die Summierung unterschiedlicher Aromen und vor allem Hintergrundaromen (siehe dazu den Text von Freitag) wird aber für ein weitestgehend unterschiedliches Ergebnis sorgen.
Ist eine authentische Regionalküche heute noch möglich?
Ja, aber nur unter ganz speziellen und seltenen Bedingungen. Vorab wäre zu klären, was eine authentische Regionalküche unter Produktaspekten ist. Die Hürden für eine solche Klärung sind allerdings so hoch bis unmöglich zu bewältigen, dass man extrem zurückhaltend sein sollte. Unabhängig von einem etwaig präzise überlieferten Rezepttext (der – alle massiven Unwägbarkeiten bei der Abfassung präziser Rezepte einmal außer Acht gelassen – immerhin existieren könnte) gibt es heute quasi keinerlei Zugriff auf Informationen darüber, mit welchen Sorten, Klonen und Rassen zur Entstehungszeit gearbeitet wurde. Es ist denkbar, dass unter Umständen Sorten und Rassen an Ort und Stelle „überlebt“ haben und keinerlei oder nur einer geringen Veränderung unterworfen waren. Bei meinem in der letzten Folge zitierten Cherrueix-Experiment liegt die Vermutung nahe, dass der Anteil an lokalen Spezifitäten zumindest so hoch war, dass sich ein auffallend andersartiges Geschmacksbild als erwartet ergeben konnte.
Bezieht man den Begriff „Authentizität“ nicht auf historische Produkte, sondern auf eine Arbeit im Hier und Jetzt auf der Basis historischer Rezepturen, hängt die Abweichung vom Original vom Ausmaß der Veränderungen bei Sorten und Rassen ab. Da auf solche Zusammenhänge früher nicht wirklich unter dem Aspekt der Authentizität geachtet wurde, muss man von beträchtlichen Veränderungen ausgehen. In der Regel wissen wir nicht, womit gekocht wurde, weil zum Beispiel die Auskunft „1 Kilo Kartoffeln“ einen äußerst geringen Informationsgehalt hat.
Eine Regionalküche kann heute authentisch wirken, wenn sie zum Beispiel mit regionalen und/oder lokalen Bio-Produkten bester Provenienz entsteht. Dann wäre die Oberfläche vielleicht authentisch zu nennen, weil die Produkte von einem spezifischen Terroir und Klima mitgeprägt sind. Über die Sorte weiß man allerdings in der Regel nicht besonders viel.
Die Touristen haben Recht: an Ort und Stelle schmeckt es anders
Es passiert immer wieder, dass Touristen von einem unvergleichlich speziellen, guten Geschmack berichten, den sie irgendwo im Urlaub bei regionalen Speisen erlebt haben. Solche Beobachtungen registriert man meist unter eher unkulinarischen, eher situativ-psychologischen Aspekten. Mit der frischen Meerluft und den frischen Fischen, mit Freunden und in einer komplett aufgekratzten Stimmung schmeckt es eben ganz anders als zu Hause. Tatsächlich ist es ausgesprochen naheliegend, dass die Gründe vorwiegend kulinarischer Natur sind und mit den verwendeten Produkten zu tun haben. Je höher der mehr oder weniger autochthone Anteil an Produkten ist, desto wahrscheinlicher wird ein Geschmack erzeugt, der anderswo nicht denkbar ist.
Was bedeuten traditionelle Rezepte heute?
Man sollte sich mehr auf ungewöhnliche Akkorde und ungewöhnliche Zubereitungsmethoden konzentrieren als auf die Produkte und Beides eher als Inspirationen denn als Möglichkeit zur identischen Reproduktion sehen. Insofern können traditionelle und /oder stark regional geprägte Rezepte eine wertvolle Anregung sein – wo immer auf der Welt man sich mit ihnen beschäftigt. Den Status des Authentischen sollte man weder forciert anstreben noch überhaupt für irgendwie naheliegend halten – Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Produktbarriere zu einem Ergebnis, das dem Authentischen auch nur nahe kommt, ist nicht kaum zu überwinden und erfordert eine umfangreiche Recherche.
Die Unterscheidung zwischen Traditionellem und Authentischem
Unter den genannten Aspekten muss man die Frage nach der Existenz des Authentischen sehr kritisch und sehr zurückhaltend angehen. Während man beim Weinanbau schon immer stark auf bestimmte Klone und Zuchten geachtet hat, die auch immer wieder nach außen kommuniziert werden (etwa wenn von viele Jahrzehnte alten Rebstöcken die Rede ist oder der Anfälligkeit bestimmter historischer Klone für Krankheiten) ist dies zum Beispiel in der Gemüseproduktion weit in den professionellen Bereich zurückgedrängt. Dort interessiert man sich für alle möglichen technischen Aspekte, um einen guten Ertrag und eine geschmackliche Akzeptanz beim Kunden zu erzielen. Der Kunde selber denkt so gut wie nie in Kategorien von Sorten und Klonen.
Demgegenüber können per Rezept überlieferte, traditionelle Geschmacksbilder ohne weiteres von großem Interesse sein. Dieses Interesse ist vor dem Hintergrund der mangelnden Authentizität der Produkte allerdings im Prinzip nicht anders, als das Interesse an neuen Rezepten beliebiger Provenienz. Es ergeben sich Anregungen durch alte Rezepte, die mit modernen Produkten realisiert werden und eben in Sachen einer potentiellen Authentizität eine große geschmackliche Unschärfe zeigen.
Die Erforschung des Authentischen
Die Erforschung traditioneller Geschmacksbilder über die Suche nach und Verwendung von definitiv als „alt“ einzustufenden Sorten ist dagegen eine interessante Sache, die gleichwohl ebenfalls eine gewisse Distanz zu Authentischem haben kann. Unter ganz bestimmten, seltenen Umständen ist sogar eine Art kulinarische Zeitreise denkbar, aber sehr unwahrscheinlich. In einem sorgfältigen, multifaktoriellen Verfahren könnte man sich der Reproduktion von historischen/traditionellen Rezepten nähern. Wie nahe man diesen kommen kann, bleibt naturgemäß immer etwas unklar. Um einmal einen Vergleich zu bemühen: das Musizieren auf historischen Instrumenten ist da wesentlich einfacher, weil diese Instrumente in ihrem Alter vielleicht auch nicht mehr ganz so klingen wie zu der Zeit, in der sie gebaut wurden, aber dennoch ähnlich klingen dürften. So wie man übrigens durchaus der Meinung sein kann, dass eine auf einem Klavier aus Mozarts oder Beethovens Zeiten gespielte Sonate schlechter klingt, als auf einem modernen Flügel, steht immer noch im Raum, ob denn der Komponist nicht bestimmte Partien exakt für den „alten“ Klang geschrieben hat und vielleicht über den neuen von heute teilweise entsetzt wäre…
Kochbücher über irgendeine Regionalküche mit dem Zusatz „echt“ sind eine naive Fälschung
Die Folgerungen für unsere aktuelle Nutzung von Begriffen wie Regionalküche, authentische Regionalküche, echter Regionalküche oder Originalrezepte von Bäuerinnen aus einem abgelegenen Alpental sollten gravierend sein. In der Regel ist das Verständnis hochgradig naiv und unreflektiert und meist auch noch stark interessengeleitet. So interessant neue Bearbeitungen historischer Rezepturen oder auch nur einzelner Ideen sein mag, so absurd sind die meisten Versuche, irgendeine Form der Reproduktion alter Geschmacksbilder zu erreichen und das mit „modernen“ Produkten. Insofern sollte jede Fetischisierung von Regionalküche immer auf dem Prüfstand stehen und damit auch all jene, die damit ihr Süppchen kochen wollen.
Dennoch bleibt jede Forschung in dieser Richtung hochinteressant – zum Beispiel wenn – wie oben erwähnt – eher regionale/traditionelle Techniken und Akkorde erforscht werden. Interessant bleiben auch die wenigen (aber immerhin existierenden) Versuche, eine Art neue regionale Authentizität zu erreichen. Aber auch diese Versuche, die teilweise schon zu exzellenten Ergebnissen führen) sollten immer reflektierend verlaufen und die Spuren ihrer Materialien so gut wie möglich verfolgen. Die „Tracabilité“ – wie die Franzosen das nennen – ist nicht zuende, wenn man weiß, von welchem Erzeuger ein Produkt kommt…
Ich weiß nicht, ob uns diese Gedanken überhaupt weiterbringen. Wie Sie schon selbst anmerken: fast jedem Tourist schmeckt es vor Ort besser als das Nachgekochte zu Hause. Wir wissen doch schon längst, dass das einerseits an der Stimmung liegt, andererseits aber an den Produkten vor Ort liegen könnte. Wobei ich holländische Tomaten auf den Märkten der Provence sah, und das schon vor x Jahren. Ich rechne die gehobene Qualität der Speisen vor allem der Kochkunst der Köche vor Ort zu, die ständig mit „ihren“ Produkten umgehen, und was man oft tut, kann man optimieren. Einmaliges Kochen zu Hause kommt da nicht mit.
Es gibt längst Kochbücher, die sich zu dieser „Authentizität“ der alten Rezepte klug verhalten, indem sie mehrere Rezepte von verschiedenen Köchen vergleichen und dann eine angepasste Version abdrucken, oft auch noch ein zweites Mal angepasst an moderne Kochgewohnheiten. Das macht Sinn, wenn man sich von der sogenannten Authentizität verabschieden kann. Oder wer setzt heute noch Töpfe auf offene Feuer oder auf Kohleöfen mit ihrer kaum zu regelnden Hitzeverteilung?
Lieber Herr Giese, die Werbung hat mit dem Inhalt nichts zu tun, aber das nur am Rande. – Ich verstehe, was Sie mit „esoterisch“ meinen. Tatsächlich ist das Problem sehr manifest und führt jetzt schon zu vielerlei Unschärfen. Aber – in diesem Fach ist Denken eben nicht die Hauptbeschäftigung und wenn man dann einmal etwas mehr in Richtung – sagen wir: wissenschaftstheoretischer Grundlagen geht, wirkt das immer gleich wie ganz weit entfernt. Aus diesem Grund setze ich solche Texte hier auch immer sehr dosiert ein und im übrigen immer noch in einer sehr abgemilderten Sprache und theoretischen Schärfe. Nach Ende meiner Arbeit im Feuilleton der FAZ gibt es ja quasi keine Stelle mehr, an der man wenigstens ansatzweise konsequent denken kann.
Gruß JD
Was für ein wundervoller, esoterischer Diskurs. Allerdings glaube ich, dass die Affiche am Rand „Vegane Patties im Handmade-Look (!!!)“ den Ist-Zustand unserer verzehrenden Wirklichkeit eher abdeckt.