Worum es geht: Nach einer Analyse aller möglichen Forderungen zur Verbesserung der Ernährung und der kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen kulinarischen Systemen von der Spitzenküche bis zur industriellen Nahrung lassen sich klar Schlüsse für die Praxis ziehen. Sie werden hier in 10 Grundsätzen/Forderungen zusammengefasst und erläutert.
Der Theorie soll hier ganz entschieden die Praxis folgen. Und da muss es nach all den Kritikpunkten an dem, was wir alle rund ums Essen bisher praktiziert haben, nach der Diskussion bisher dominanter Ideen klassischer Kochkunst und nach dem, was die industrielle Nahrungsmittelproduktion im Laufe der Zeit mit uns gemacht hat, um eine ganze Reihe von deutlichen Veränderungen gehen. Diese Veränderungen sind in der Summe so beträchtlich, dass man zum Beispiel eine große Anzahl von bisher existierenden Rezepten auf jedem Niveau kritisch betrachten muss. Beim einen Rezept wird mehrfach gesalzen und gepfeffert, beim anderen werden ständig Fonds benutzt, dann wieder wird ein Geschmacksbild angestrebt, das kaum etwas mit dem Geschmack der Produkte zu tun hat oder es wird eine Art abgehobene Luxusküche praktiziert, bei der es nur noch um die allerbesten und teuersten Stücke geht und ganze Kochbücher mit Rezepten gefüllt werden, deren Bestandteile man kaum irgendwo kaufen kann. Es soll hier um eine Küche gehen, die sich überall und jederzeit realisieren lässt, die also im täglichen Gebrauch bestehen kann. Das wiederum soll nicht bedeuten, dass es ins Banale, wenig genussvolle oder sonst wie nicht besonders Erfreuliche geht, ganz im Gegenteil. Es gilt am Ende des Tages nachzuweisen, dass eine reformierte, unter ganzheitlichen Aspekten gedachte Küche Glanz und Raffinesse haben kann, und dass auch ein neuer Ansatz mit vielen Veränderungen in vielen Details tragen kann. Gesucht wird also:
Eine Küche, die auch mit einfachen und wenig kostspieligen Produkten kulinarischen Glanz gewinnt – natürlich, ökologisch, präzise, vielfältig, sensibel
Hier nun eine Liste von 10 Grundsätzen für die praktische Arbeit in der Küche
Grundsatz 1: Arbeit mit einfachen, preisgünstigen aber guten Produkten, die im Prinzip jederzeit und für jedermann zu bekommen sind
Wenn sich wirklich etwas ändern soll, muss die Verhaltensänderung im täglichen Leben beginnen können. Für die Küche bedeutet das die Möglichkeit der Realisierung in ganz normalen Alltagssituationen, die im Prinzip jeder so oder ähnlich bei sich zu Hause vorfinden kann.
Grundsatz 2: Verzicht auf besonders kostspielige Produkte und solche Produkte, die längere Transportwege nötig haben
Dies ist nicht unbedingt eine Forderung, die gegen die Spitzenküche und ihre Spitzenprodukte geht. Auch dort gibt es mittlerweile viele Küchen im kreativen Sektor, die sich von der Verwendung kostspieliger Produkte weitgehend verabschiedet haben. Eine moderne Küche mit ihrer gegenüber der klassisch-französischen Küche deutlich veränderten Ästhetik kann mit vielerlei Produkten arbeiten.
Grundsatz 3: Verwendung aller essbaren Teile von Gemüse, Obst, Fisch und Fleisch
Dies ist ein Grundsatz, der gerne genannt, aber selten wirklich konsequent befolgt wird. Er ist deshalb schwieriger als andere zu befolgen, weil für eine überzeugende Verwendung aller Teile und die konsequente Vermeidung von Abfall noch viele Ideen fehlen. Es ist auch ein Grundsatz der Selbstdisziplin und des Engagements für die Sache. Man wird sich immer wieder dabei ertappen, daß man Dinge wegwirft, weil ihre Verarbeitung vielleicht gerade im Moment nach einem arbeitsreichen Tag zu kompliziert erscheint.
Grundsatz 4: Radikale Reduzierung des Abfalls bis hin zur Verwendung von Kartoffelschalen und Kerngehäusen
Siehe oben. Es geht auch um die Definition, was denn nun wirklich Abfall ist, und was nicht. Wie weit kann man gehen? Sind welke Blätter eines Salatkopfes noch Produkte, die für eine Sauce oder Ähnliches verwendet werden können? Was macht man mit Kräuterstielen? Was mit Knorpelstücken beim Fleisch? Mit der Gräte vom Fisch?
Grundsatz 5: Adaption von Kochtechniken und Entwicklung neuer Techniken (wie die Invers-Saucen) zur gleichberechtigten Behandlung auch bisher selten genutzter Teile
Es geht noch Vieles. Der oft gehörte Satz in der traditionellen Küche, es gäbe weder neue Produkte noch neue Kochtechniken, ist längst ad absurdum geführt. Wir stehen am Anfang, nicht am Ende einer Entwicklung.
Grundsatz 6: Weitgehender aromatischer Purismus mit dem Ziel, möglichst viel Eigengeschmack und die Natürlichkeit der Produkte zu erhalten
Auch dies ist ein Grundsatz, der gerne genannt, aber eher selten konsequent verfolgt wird. Zu einem aromatischen Purismus gehört, daß man Aromen auch dann als „vollwertig“ akzeptiert, wenn sie nicht so deutlich schmecken, wie das bei anderen Produkten der Fall ist. Dazu gehört auch, dass man Produkte in einer nicht besonders gewürzten oder im Aroma verstärkten Form akzeptiert: das Fleisch einmal ohne Salz und Pfeffer, nur mit Röstnoten, oder auch essbare Kräuter, Wurzeln oder Pflanzen, die nicht so aromatisch schmecken wie Rosmarin, Thymian oder Liebstöckel.
Grundsatz 7: Weitgehender Verzicht auf gleichmacherische Fonds und auf Aromatisierungen konventioneller Herstellung und Konzeption (wie etwa Brühwürfel etc.)
Es ist eine sehr weit verbreitete Praxis, Allem und Jedem mehr oder weniger viel Fonds oder Gewürzmischungen beizugeben. Diese Maßnahme gilt in der klassischen Küche oft noch als grundsätzliches Stilmerkmal. Tatsächliche verändern gerade Fonds die Feinstruktur bei den Aromen ganz entscheidend und verhindern die Wahrnehmung natürlicher Aromenspektren.
Grundsatz 8: Starke Reduktion des Einsatzes von Salz und Pfeffer
Der immergleiche aromatische Grauschleier durch die ständige Verwendung von Salz und Pfeffer gehört auf die Müllkippe der unreflektierten kulinarischen Abwege.
Grundsatz 9: Erarbeitung auch anspruchsvollerer Kompositionen mit einfachen Produkten
Anspruchsvolle, interessante Kompositionen kann es mit allen möglichen Produkten geben, nicht nur mit den besonders kostspieligen. Die Leistung liegt hier mehr beim Koch, seinem Differenzierungsvermögen und seinem handwerklichen Können – gleichzeitig aber auch bei jenem Esser, der komplexe Kreationen auch dann als hervorragend wahrnehmen kann, wenn sie nicht aus den üblichen Spitzenprodukten bestehen und den üblichen Klischees entsprechen.
Grundsatz 10: Anwendung modernster Erkenntnisse der Sensorik, insbesondere der Variation der Temperaturen und Texturen
Das moderne Verständnis von einer ausgeweiteten Sensorik ist der Schlüssel zu kulinarischen Genüssen der neuen Art, weil mit ihm in jedem Zusammenhang ein hochinteressantes Geschmackserlebnis realisiert werden kann.
Fotos © Thomas Ruhl
„Kochen“ von Stevan Paul setzt fast alles um. Ich bin überwiegend einverstanden mit den Forderungen oben außer der mit Salz und Pfeffer. Ohne geht nicht. Aber verschiedene Pfeffersorten vorzuhalten, lohnt unbedingt. Da gibt es tolle Nuancen. Ich würde noch hinzufügen, dass man nach Möglichkeit a) viel Gemüse selbst anbauen sollte, da dann die Frische optimal ist, aber man muss sich mit der Optimierung des Anbaus intensiv beschäftigen und b) die Suche nach dem besten Bäcker, dem besten Metzger, dem besten Käseladen etc. dazugehört, wenn man gut essen/kochen will. Dazu gehört, dass man sich über Wahl der Mehle, Treibmittel, eingehaltene Ruhezeiten etc. kundig macht, also richtig hinter die Kulissen schaut und sich selbst Wissen aneignet, was ein gutes Produkt überhaupt ausmacht. Gutes Essen ist Arbeit. Man kann nicht einfach naiv irgendwas kaufen oder irgendwo irgendwas essen und was Gutes erwarten. War das jemals anders, frage ich mich? Mir scheint zumindest, dass es schwieriger geworden ist, was wohl mit der Zunahme der industriellen Produktion von Nahrungsmitteln zu tun hat. Ursprüngliches zu finden, ist richtig mühsam, macht aber oft den Qualitäts- und Geschmacksunterschied aus.