Köche rund um den Globus haben in den letzten Wochen mehr denn je über ihr Fach und seine Stellung in der Gesellschaft nachgedacht. Dabei spielt auffällig oft ein Denken eine Rolle, das zwar hier und da auch schon konkrete kulinarische Folgen hatte, insgesamt gesehen aber allzu oft noch wenig präzise und mit einem eher begrenzten Blick angegangen wird. Es geht darum, wie man eigentlich alle positiven Aspekte rund um die Zukunft des Essens zusammenführen kann, wie man also gute Produkte, Ökologie, gute und kreative Küche, Gesundheit und Genuss zu einem allgemeinen Nutzen für die ganze Gesellschaft zusammenbringen kann. Auf dem langen Weg zu einer kulinarisch reichen und wirklich im besten Sinne zivilisierten Gesellschaft wird noch viel zu entwickeln sein. Wichtig ist, zuerst die Zusammenhänge zu begreifen und dann konkrete Schritte einzuleiten – offen gegenüber den Traditionen wie der Zukunft, also auch kritisch gegenüber Allem, was gemacht wurde und gerade gemacht wird. Das Alles ist gerade in einem Fach, das von vielen scheinbar unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, nicht einfach.
Ich möchte hier heute zunächst meine 10 Thesen zu einer solchen Ganzheitlichen Gourmandise vorstellen, denen dann demnächst auch die entsprechenden Konkretisierung in Form von 10 Grundsätzen für die praktische Arbeit in der Küche folgen.
Die Thesen und Grundsätze habe ich im Jahre 2016 entwickelt und 2017 in meinem Buch „Pur, Präzise, Sinnlich“ veröffentlicht. Dieses Buch befasst sich mit der Küche der Zukunft – in allen möglichen Bereichen vom theoretischen Überbau bis zu vielen praktischen Details. Ich habe gegenüber dem fett gedruckten Originaltext bei einigen Thesen ein paar kleine Anmerkungen gemacht.
10 Thesen zur Ganzheitlichen Gourmandise
1. Die ganzheitliche Gourmandise sucht einen möglichst engen und schlüssigen Zusammenhang zwischen guten Produktqualitäten, Kochkunst, Genuss, gesundheitlichen und ökologischen Aspekten des Essens.
2. Die ganzheitliche Gourmandise sieht die Verbindung aller kulinarischen Aspekte mit einer allseits nützlichen und zukunftsfähigen gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur als sinnvoll, sondern als unabdingbar an.
Anm.: Die gesellschaftliche Rückkoppelung der eigenen Arbeit (was nicht das gleichbedeutend mit „dem Gast nach dem Mund zu kochen“ ist, sondern zum Beispiel aus gesamtgesellschaftlichen Gründen der Bewahrung der kulinarischen Traditionen einen wichtigen Platz einräumt und das Gegenteil vermeidet) ist bisher nicht gerade eine Stärke der deutschen Gourmandise.
3. Eines der wichtigsten Ziele einer ganzheitlichen Gourmandise ist das Erreichen einer neuen, umfassenden Geschmacksästhetik, die in der Lage ist, alle wünschenswerten Ziele und Ressourcen zu integrieren.
Anm.: Wer zum Beispiel wirklich Nose-to-Tail oder die Verwendung aller Pflanzenteile oder die Verwendung vieler vergessener Ressourcen durchsetzen will, muss eine neue Geschmacksästhetik entwickeln, die nicht nur traditionelle und/oder modische Geschmacksbilder für gut hält.
Eine. Neue Geschmacksästhetik wird sich nur langsam entwickeln können, kann aber gefördert werden.
4. Die ganzheitliche Gourmandise widmet sich auf ihrem Weg zu einem intensiveren, den sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen adäquateren Genuss der kritischen und konstruktiven Revision sowohl traditioneller wie populärer Geschmacksbilder.
5. Die ganzheitliche Gourmandise sieht in der Emanzipation von kontraproduktiv-industriellen Geschmacksbildern eine unabdingbare Voraussetzung für eine emanzipierte Gourmandise zum Vorteil des Individuums und der Gesellschaft.
Anm.: Die enorm wichtige Abkoppelung von den immer weiter um sich greifenden industriellen Geschmacksbildern wird immer schwieriger, zumal solche Geschmacksbilder auch bei vielen Köchen ihre Spuren hinterlassen haben. Dennoch ist dieser Punkt eher zu realisieren als etwa Punkt 4, der für Köche wie Genießer eine Revision der eigenen Vorlieben bedeutet. Dabei spielt eine ausgeweitete Sensorik, die der neuen Köche eine neue Sinnlichkeit (im Wortsinn) verleiht, eine wesentliche Rolle.
6. Die ganzheitliche Gourmandise setzt der Einschränkung des Essbaren auf wenige, massenkompatible Produkte eine Ausweitung der Produktpalette und des Verständnisses von ihrer Eignung für jede Art von Küche entgegen.
7. Neben der Ausweitung der Produktpalette propagiert die ganzheitliche Gourmandise auch die Reduzierung der Abfälle – insbesondere durch eine intensivere Verwendung von bisher wenig beachteten Teilen von Tieren und Pflanzen.
Anm.: Ein Punkt, der vor allem in der üblichen Spitzenküche bisher kaum eine Rolle spielt, obwohl er in anderen Bereichen der Kultur schon lange diskutiert wird.
8. Der Einsatz der ganzheitlichen Gourmandise für eine gesündere Ernährung ist nicht nur diätetisch bedingt, sondern hat auch etwas mit einer höheren Wertschätzung aller nutzbaren, natürlichen Produkte zu tun.
Anm.: Eine zukunftsfähige Küche wäre definitiv auch eine wesentlich gesündere Küche – wobei es nie um jedes konkrete Essen geht, sondern immer um die entstehende Gesamtbilanz. Wer ein klassisch-fettes Gericht in prächtiger Opulenz genießt, handelt damit noch lange nicht – wie das teilweise die eher genussfernen Gruppierungen der Gesellschaft sehen – kontraproduktiv. Die kulinarisch-genießerische Wertschätzung ist nur dann relevant, wenn sie eine Verbindung der besten Traditionen mit den besten neuen Konzepten erreicht.
9. Die ganzheitliche Gourmandise sieht die Reduzierung des Verbrauchs an Nahrungsmitteln in den Industrieländern als einen unter globalen Aspekten nicht nur wünschenswerten, sondern notwendigen Aspekt an.
Anm.: Wir müssen in sehr vielen Fällen einfach lernen, weniger zu essen und mehr zu genießen. Wahrscheinlich könnte man Nahrungsmittelknappheit in weiten Teilen der Welt allein dadurch zu einem beträchtlichen Teil beseitigen, dass in den Industrienationen weniger gegessen wird.
10. Die ganzheitliche Gourmandise sieht eine extrem wichtige Aufgabe darin, das Bewusstsein für den Eigengeschmack der Produkte zu fördern – unter anderem durch den Einsatz für eine erhebliche Verminderung des oft mechanistisch erfolgenden Würzens, also vor allem für eine Zurücknahme von Salz, Pfeffer und anderer, gleichmacherischer Zutaten.
Anm.: So schwer es auch sein mag: der Schlüssel zur Zukunft des Essens ist auch das, was ich „aromatische Abrüstung“ nenne. Die vielen „guten Würzungen“ sind oft längst die Folge einer Denaturierung des Geschmacks, also im Grunde näher an der Industrie als an der Gourmandise.
Wir werden den Respekt vor der Natur wiedergewinnen müssen, wir werden uns den Aromen und Produkten nicht nur der große, weiten Welt, sondern auch denen vor unserer Haustür öffnen müssen, wir werden unsere kulinarischen Sinne entdecken und zu einer neuen Sinnlichkeit finden müssen – ganz selbstverständlich, mitten in der Gesellschaft, mitten im Leben.
Kleines Detail als Empfehlung zu diesem Thema : Schon 1999 erschien J.-P. Derenne: La Cuisine Vagabonde ; eine Anleitung zu „nose to tail“ Kochen für ALLE Arten von Produkten mit vielen historischen Rezepten, die zeigen, wie sehr wir den Kontakt zu diesen Traditionen verloren haben/hatten. Gibts auf Französisch für wenig Geld .
Zu Ulf: Das müsste ausführlicher sein um zu interessieren, finde ich.
Grüße !
HS
spannende ansätze, von mir natürlich auch noch ein paar offene fragen: brauchen wir einen deutlicher abstand der hochküche von der industriellen lebensmittelverarbeitung-und zubereitung? „gefühlt“ eine these, die jede/jeder energisch bejahen würde; im einzelnen ginge es dann aber doch recht schnell um elemente, die wir mittlerweile als bestandteil der hochküche betrachten wie techniken, substanzen aus der “ molekularküche“, die als stilistik sicher nicht mehr en vouge ist, aber immer noch stark im küchenalltag präsent? ist die forderung der beschränkung zeitgemäss für eine epoche der expansion, globalisierung und migration, lässt sich diese beschränkung sinnvoll durch eine “ kilometerpauschale“ der verwendeten zutaten erfassen? kann hochküche in der gesellschaftlichen realität verortet werden oder bleibt sie austauschbares lifestyledingsbumms einer internationen klientel von “ foodies“?
Ganzheitlich hat die Gourmandise ganz andere Probleme,ich habe selten so einen Blödsinn gelesen wie diesen Beitrag.
Na ja, sagen wir es einmal so: spätestens wenn es demnächst einmal um Zuschüsse oder Ersatz von Kosten für kreative Gourmetrestaurants und Co. gehen sollte und die Verantwortlichen sagen: „Was sollen wir diesen Schicke-Micki-Treffpunkten auch noch das Geld hinterherwerfen, die machen ja sowieso nichts Vernünftiges, was wir alle brauchen können“, wird klar werden, dass gute Küche nicht in einer Blase überleben kann, sondern nur m mitten in der Gesellschaft überleben kann. Sie muss nützlich sein, und sie muss kommunizieren, dass sie nützlich ist.
Ansonsten erlauben Sie mir bitte den Hinweis, dass ich natürlich seit vielen Jahren weiss, dass Nachdenken nicht die Hauptarbeit vieler Köche ist. Muss es ja auch nicht sein, aber dann sollte man wenigstens versuchen, Dinge und Zusammenhänge zu verstehen.