Es ist zu hoffen, dass unsere kreativen Köche die erzwungene Auszeit nicht nur nutzen müssen, um finanzielle Probleme in den Griff zu bekommen, sondern auch nutzen können, um sich mit etwas mehr Zeit neuen Ideen und Konzepten zu widmen. Mir geht es heute erst einmal um den kulinarischen Bereich im engeren Sinne, um die kreative Arbeit rund um neue Rezepturen, Techniken und Produkte. Ich habe mich für die kreativen Prozesse unserer besten Köche schon immer interessiert und regelmäßig danach gefragt, wie sie denn eigentlich arbeiten. Dabei fiel vor allem Eines auf: man macht das sehr häufig zwischen Tür und Angel, notiert kurze Ideen – ohne bereits weiter in die Tiefe zu gehen – und versucht diese Ideen dann irgendwie im laufenden Geschäft und mit Hilfe der Mitarbeiter auszuprobieren und zu optimieren. Wenn ein erster Versuch probiert werden kann, greifen oft probate Mechanismen: Die Meister selber und ihre Mitarbeiter erzielen beim Probieren und den anstehenden Verbesserungen zuverlässige Resultate, die dann allerdings nicht selten von einer mehr oder weniger funktionalen Anpassung an den Stil des Hauses und die Praktikabilität der Gerichte im Restaurantbetrieb geprägt werden. Die ursprüngliche, kreative Idee wird also eher zu einer (begrenzten) Anregung, die dann zurechtgeschliffen wird. Dagegen ist natürlich im Prinzip nichts einzuwenden. Aber – dieses Verfahren ist vielleicht auch der Grund dafür, dass viele vielleicht spektakuläre Ideen gar nicht erst weiter bedacht werden, nicht auf die Karte kommen und ihre möglicherweise gute bis vielleicht sogar überragende Außenwirkung nie erzielen. Der kreative Prozess ist einfach zu hektisch und nicht frei genug.
Wenn man eine Küche sucht, die wirklich Aufsehen erregt oder zumindest ab und zu eine Idee haben will, über die sehr viele Leute sehr viel reden, muss man mehr Gewicht auf die eigentliche kreative Arbeit, also die Konzeption von Ideen verwenden. Dabei kann man durchaus – wie das viele Beispiele großer Kreativer zeigen – erfolgreiche Strategien nutzen. Hier dazu einige Anmerkungen.
Kreative Praxis 1: Jede Idee ist eine gute Idee
Der überwiegende Teil großer Kreativer hat eine wesentliche Angewohnheit, die typischerweise weniger kreative Leute nicht haben. Wenig kreative Leute neigen dazu, jede noch so kleine Idee positiv überzubewerten und sehr lange über sie nachzudenken. Nicht selten bleiben sie dann bei einer begrenzten Idee hängen und variieren sie manchmal ihr Leben lang. Natürlich gibt es auch Beispiele dafür, dass ein solches Verfahren tragen kann. Aber – das sind eher seltene Beispiel, wie z.B. Künstler wie Günther Uecker mit seinen Nagelbildern oder Yves Klein, der sich weitestgehend auf die Farbe Blau konzentriert hat. Es gibt auch – und das gerade dort, wo die kreativen Genies sitzen – Gegenbeispiele, wie etwa Picasso, der in einer ganzen Reihe von verschiedenen Stilen gearbeitet hat und sogar im hohen Alter noch einmal einen komplett neuen, sehr wilden Altersstil entwickelt hat. Im kulinarischen Bereich gilt Ähnliches für Ferran Adrià, der ja nicht nur ein paar weltweit bekannt gewordene Gerichte der ‚Molekularküche‘, sondern sein ganzes Leben lang in ganz unterschiedlichen Richtungen kreativ gearbeitet hat.
Wichtig ist, nicht jede kleine Idee gleich für einen großen Wurf zu halten, sie aber auch nie einfach schnell zu verwerfen. Eine Idee ist eine Idee ist eine Idee: Man weiß nie genau, was daraus irgendwann einmal werden kann und ob man nicht einen genialen Einfall bekommt, wie man die vorhandene Grundidee perfektionieren kann. Ein guter Ablauf für Ideensammlungen ist, an einer Idee so lange zu arbeiten, wie es gut und locker läuft und zu stoppen, wenn man ‚hängenbleibt‘. Was noch fehlt oder wie es weitergeht, findet man bei einer zweiten oder dritten Sichtung der Ideen vielleicht wie von selber.
Wichtig ist aber vor allem, keine Idee nur deshalb zu verwerfen, weil sie völlig ‚wahnsinnig‘ ist und sowieso im Restaurant keine Chance hat. Ein kreativer Koch mit einem Kopf voller Ideen hat ganz selbstverständlich auch Einfälle, die kaum umsetzbar erscheinen. Diese Spannbreite sollte man sich in großer Offenheit einräumen und vielleicht sogar kultivieren. Wie gut die Sachen sind, kann man oft nicht spontan entscheiden. Jedes Ablehnen von Ideen aber schränkt die Gedanken nur ein und funktioniert wie eine unnötige ‚Schere im Kopf‘.
Kreative Praxis 2: Von Ferran Adrià lernen, heißt systematisches, kreatives Arbeiten lernen
Was viele Leute gar nicht wissen oder vergessen haben ist, dass Ferran Adrià nicht sozusagen aus dem kreatives Nichts gekommen ist, sondern sich systematisch zu dem kreativen Weltstar entwickelt hat, der er dann geworden ist. Die Quelle dazu findet sich in seinem Buch ‚Die neue Küche Kataloniens’“ aus dem Jahre 1993. In diesem ersten, großen El-Bulli-Buch ist er noch weit entfernt von dem, was man später ‚Molekularküche‘ genannt hat und ist offensichtlich von dem inspiriert, was damals vor allem in Frankreich an kreativen Entwicklungen zu beobachten war (also Bras, Roellinger und Co.). Es ist aber auch zu erkennen, dass er einen eigenen Weg zu seiner individuellen Kreativität sucht. Und dabei hat er damals einen interessanten Weg gefunden, bei dem man quasi automatisch zu vielen Ideen kommt, oder besser gesagt: an Material, das zu eigenen Ideen führt. Ich kenne dieses Verfahren sehr genau und arbeite immer wieder damit. Seine Wirkungen sind ganz erstaunlich.
Grundlage ist das Erstellen von Listen in verschiedenen, für das Kochen relevanten Teilen. Man braucht also – übersetzt in eine ganz normale Praktikabilität – zum Beispiel eine Liste mit Grundprodukten, eine Liste mit Gartechniken, eine Liste mit Gewürzen oder Würzzutaten, eine Liste mit Texturen, eine Liste mit Zutaten-Zubereitungen, eine Liste mit Saucen usw. usf. Und wenn man gerne mit Kräutern arbeitet oder mit Kräutern arbeiten will, dann eben auch eine Liste mit Kräutern. Die Gliederungen bei Adrià sind teilweise etwas anders und auch manchmal etwas verwirrend. Das Prinzip fand und finde ich ganz wunderbar entspannt und effektiv.
Ich habe diese Grundidee dann in meinen Büchern aufgenommen und spezifiziert und zum Beispiel für die kreative Arbeit in der Nova-Regio-Küche die ‚Nova-Regio-Analyse‘ von Produkten zwecks Gewinnung neuer Ideen empfohlen. Dabei sammelt man alle möglichen traditionellen und zeitgenössisch-avantgardistischen Zubereitungsarten für ein Produkt. In meinem Buch ‚Himmel und Erde‘ von 2014 habe ich am Beispiel eines besonders spröden Produktes (Steckrübe) diese Form der Ideenschöpfung einmal durchgespielt. Ich bin dann z.B. auf folgende Elemente und Zubereitungsarten gekommen:
– Püree von der Steckrübe, klassisch, evtl. angereichert mit Fonds und Sahne
– Würfel von der Steckrübe, klassisch in Salzwasser gegart
– Würfel von der Steckrübe, in aromatisiertem Wasser gegart, zum Beispiel angesäuert mit diversen Essigen
– im ganzen über offenem Feuer gegarte und kräftig angeröstete Steckrübe, eventuell in einer Salzkruste oder Teig, um die Saftigkeit zu Erhalten
– geräucherte Steckrübe, im ganzen oder in Teilen, über offenem Feuer oder im Räucherofen nach Vorgarung beendet
– geschälte und klassisch vorgegarte Stücke, über offenem Feuer kurz nachgeröstet
– getrocknete Chips aus dem Fruchtfleisch und der Schale
– pulverisierte Steckrübe
– Steckrübenasche
– geeiste Würfel von vorgegarter Steckrübe
– klassische Steckrübensauce „mit einem Hauch von Steckrübe“ und einer an das jeweilige Gericht angepassten Fond-Grundlage, die klassisch-französische, „elegante“ Version
– Steckrübeneis
– Steckrübenmayonnaise
– vorgegarte, dann panierte und ausgebackene Steckrüben-Pralinen
– sauer eingelegte, gepickelte Steckrübenwürfel
– fermentierte Steckrüben und alle entsprechenden weiteren Verwendungen
– Steckrübensaft – frisch oder vergoren
– Rückstände vom Entsaften der Steckrübe
– kalter Steckrübensaft
– Carpaccio von der Steckrübe
– Steckrüben-Nudeln im japanischen Stil, roh gezogen
– Steckrüben aus der Erdmitte
– Steckrüben, langsam im Ofen oder in der Sonne getrocknet
Die Liste kann man auch noch weiter fortsetzen, und – man kann sie quasi mit jedem Produkt realisieren.
Kreative Praxis 3: Die Nützlichkeit
Wenn man sagt, dass man bei kreativen Gedanken nicht von vornherein zuviel daran denken sollte, wie das Endergebnis ankommt, klingt das für viele Köche nach weltfremder ‚Kocherei am Publikum vorbei‘. Dem ist nicht so, weil natürlich ein beträchtlicher Teil der berühmtesten Köche gerade dadurch bekannt wurde, dass sie ungewöhnliche Ideen hatten. Andererseits wird man natürlich Kreativsitzungen zur Arbeit an der Karte einer Systemgastronomie ganz anders angehen: kreativ ja, aber immer in einem bestimmten Rahmen. Mir geht es erst einmal darum, dass man – so oder so – die Gedanken nicht zu früh einengt und auf ein bestimmtes Ziel hin kanalisiert.
Es gibt verschiedene Formen von Nützlichkeit neuer Ideen und alle können am richtigen Ort und zur richtigen Zeit von einer großen Wirkung sein. In einer Szenerie, in der es stark auf die Bilder ankommt, können entsprechende Kreationen für eine schnelle Verbreitung sorgen – auch ohne dass sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jemand gegessen hat. Ferran Adrià hat mit seinen jährlich neuen Programmen fast für eine Rezeption wie bei berühmten Modeschöpfern gesorgt. Wenn er seine neuen Ideen vorgestellt hat, sah die ganze Welt hin und diskutierte. Ich habe in seinem ‚El Bulli Taller‘ in Barcelona selber einmal einige Tage die Arbeit beobachten können und weiß, wie schwierig es in späten Jahren war, wirklich immer Neues zu produzieren. Andererseits leiden viele sehr gute, eher klassisch orientierte Köche darunter, dass es ihnen nicht gelingen will, neue Gerichte zu produzieren, die ihnen eine schnelle, neue, große Öffentlichkeit bringt. Können sie also gar nicht ‚kreativ‘ in einem engeren Sinne sein? Doch, selbstverständlich. Ich kenne diverse Gerichte bei Spitzenköchen des eher klassischen Lagers, die einfach sensationell in der Spezifität sind (essen Sie z.B. einmal Huhn bei Arnaud Lallement in Reims), also Kreativität in einem Fach zeigen, dem man üblicherweise keine besondere Innovationen mehr zutraut.
Ich würde es auch nicht ausschließen, eine Karte zu haben, in der es nicht uniform, sondern vielfältig zugeht und in der sowohl Gerichte sensationell-klassisch-optimiert und interpretiert sind, als auch komplette Novitäten zu finden sind. Dabei sollte man über die hin und wieder anzutreffende Zweiteilung in normale und kreative Gerichte allerdings ein gutes Stück hinausgehen. Viele Leute mögen so etwas, weil sie oft – bei aller handwerklichen Qualität – die Einförmigkeit der Menüs vieler Spitzenrestaurants fürchten. Für Kreativität ist immer Platz, und das nicht nur bei einzelnen Gerichten, sondern vor allem auch bei Menüformen, bei der Art der Degustation. Eine bloße Aneinanderreihung von Gerichten ist heutzutage keine besonders gute Menü-Idee mehr. Wer bei den Abläufen kreativ ist und vor allem näher an die Psychologie des Gastes rückt, als das meistens der Fall ist, wird auch dort gute Erfolge haben können.
Nutzen wir die Zeit. Füllen wir sie mit einem gründlichen kreativen Update.