Ein Interview mit Mauro Colagreco vom „Mirazur“ in Menton / Frankreich, der neuen Nummer 1
in der Liste der „The World’s 50 Best Restaurants“
Anlässlich der 50. Ausgabe von Port Culinaire waren wir in Menton und haben Mauro Colagreco besucht. Die Arbeit des außergewöhnlich freundlichen Herrn Colagreco wird im Heft in meiner Avantgarde-Serie ausführlich vorgestellt und gewürdigt und mit den Bildern von Thomas Ruhl in Szene gesetzt.
Hier nun ein Interview, in dem es um das geht, was die Küche des Mirazur so unvergleichlich macht, nämlich die geschmackliche Vorstellung ihres Chefkochs, der zwei kulinarische Welten in unnachahmlichere miteinander verbindet.
Jürgen Dollase (JD): Lieber Mauro, ich hätte gerne ein paar Informationen über die Entwicklung Deines Geschmacks. Also: als Du nach Frankreich gekommen bist: hattest Du da schon eine Idee vom Geschmack der französischen Küche?
Mauro Colagreco (MC): Sehr wenig. Ich habe in Argentinien französische Küche gelernt. Aber das ist ein wenig so, als ob man chinesische Küche in Frankreich lernt.
JD: Ich wundere mich über die Zusammenhänge. Du kommst ja schließlich aus einem Land mit einer deutlich anderen kulinarischen Kultur und triffst dann in Frankreich auf eine Menge Fett und Sahne und Butter – ohne eine größere Rolle für die Zitrusnoten oder andere Dinge der südamerikanischen Küche.
MC: Als ich nach Frankreich kam, war ich sozusagen eine totale kulinarische Jungfrau in Bezug auf den Geschmack der französischen Küche.
JD: Du musstest hier also erst einmal lernen, was die Franzosen unter gut und schlecht verstehen?
MC: Als ich nach Frankreich kam, war ich erst 23 Jahre alt. Mein Geschmack war jung und unausgebildet, ich musste ihn erst ausbilden. Du entwickelst deinen Geschmack als Kind mit der Küche der Mutter – aber das ist nicht wirklich der Geschmack, das ist die geschmackliche Erinnerung. Der eigentliche Geschmack entwickelt sich später. Aber – die Erinnerungen sind stark und beeinflussen Dich immer wieder.
JD: Du bist 2001 nach Frankreich gekommen. Das war die Zeit, in der die spanische Küche zu einem ganz großen Thema wurde. Welche Haltung hattest Du als Argentinier zu den Spaniern?
MC: Na ja, als ich nach Frankreich kam, war die andere Möglichkeit durchaus die, nach Spanien zu gehen. Diese Küche wurde damals in Südamerika noch wesentlich mehr diskutiert als in anderen Ländern.
JD: Warum hat das nicht geklappt mit Spanien?
MC: Ich habe einfach mitbekommen, dass quasi alle großen Küchenchefs aus Spanien vorher bei den Franzosen gelernt haben – natürlich auch Ferran Adrià, der immer sehr viel von seiner Arbeit zum Beispiel bei Michel Guérard erzählt hat und ihn für seinen größten Einfluss hält. Da gab es auch Namen wie Jacques Maximin und andere. Ich habe ja erst mit 20 angefangen zu kochen und ich hatte das ganz klare Gefühl, dass ich in Frankreich lernen musste. Der Plan war, zwei oder drei Jahre in Frankreich zu bleiben, dann vielleicht ein oder zwei Jahre nach Spanien zu gehen und dann zurückzukehren. Aber – das Leben macht da sein eigenes Programm..
JD: Was hat Dir geschmacklich am besten gefallen? Welcher Koch hat Dich am meisten beeindruckt?
MC: Ich kam zuerst nach Bordeaux und habe dann dort sechs Monate Französisch gelernt. Ich erinnere mich da vor allem an zwei Sachen: einmal die Qualität der Produkte auf den Märkten. Für mich gab es da einen riesigen Unterschied zu Argentinien. Das zweite war das Becken von Arcachon mit seiner Austernzucht. In Argentinien isst man erst seit vielleicht zehn Jahren wirklich gute Austern. Als ich Argentinien verlassen habe, waren wir alle vor allem Fleischesser.
JD: Dann bist Du nach La Rochelle gegangen. Hast Du da auch bei Richard Coutanceau gearbeitet?
MC: Ich habe eine Stage bei seinem Sohn Christopher in einem guten Bistro gemacht. Und dort habe ich wirklich gelernt, mit den Austern richtig umzugehen. Und ich lernte, die Schalotten wirklich sehr, sehr fein zu schneiden.
JD: Welche französischen Produkte haben Dich als Argentinier besonders beeindruckt?
MC: Die Austern natürlich, dann – in der schönen alten Markthalle von La Rochelle – der Geschmack der Brioche. So etwas wie das das Brioche de Vendée habe ich nie wieder irgendwo anders gefunden: die Butter, die Balance zwischen Salz, Zucker und Butter. Das war für mich ganz toll.
JD: Hattest Du Erfahrung in der Arbeit mit Sahne oder Creme fraîche mit mehr als 40 Prozent Fett?
MC: Nein, nicht wirklich. Und in La Rochelle gab es auch noch die Tradition, mit exzellentem Ziegenkäse zu arbeiten. So etwas kannte ich nicht. Für mich gab es quasi jeden Tag etwas Neues und Phantastisches.
JD: Haben Deine Küchenchefs Dir gesagt, dass Du einen etwas anderen Geschmack entwickelst, weil Du anders schmeckst? Hattest Du irgendwelche Spezialitäten, mit denen Du Deine Küchenchefs beeindrucken konntest?
MC: Der Anfang war sehr hart. Ich war der Typ aus Argentinien inmitten von all’ den französischen Köchen. Und die fragten sich: Was macht eigentlich dieser Argentinier hier? Dann kam ich zu Bernard Loiseau in eine Brigade von 30 Köchen und habe immer nur „Wow!“ gedacht. Dann aber, nach ein paar Monaten, fragte mich Patrick Bertron (Anm. der Küchenchef und spätere Nachfolger von Loiseau), ob ich nicht mittags für die Familie kochen könnte. Für mich war das eine große Verantwortung. Ich habe dann versucht, immer etwas zu kochen, von dem ich annahm, dass sie es lieben werden. Ich fing mit französischer Küche an und habe dann langsam immer wieder ein paar von meinen Ideen realisiert, etwas Chimichurri, etwas gegrilltes Fleisch und noch ein paar Sachen. Loiseau und seine Familie liebten das. Nach seinem Tod bin ich übrigens nie wieder nach Saulieu zurückgekommen. Sein Tod war für mich ein unersetzlicher Verlust. Zehn oder zwölf Jahre nach seinem Tod habe ich seine Frau wiedergetroffen. Sie sagte dann, wie froh sie sei, dass es mir so gut gehe. Und dann sagte sie, Bernard habe immer gesagt, wie wunderbar er es gefunden hat, mit wieviel Liebe ich für sie mittags gekocht habe. Das war eine ganz große Ehre für mich.
JD: Was sind heute Deine Inspirationen? Was ist mit Südamerika? Seit ein paar Jahren kopiert schließlich die ganze Welt die Ideen der südamerikanischen Küche. Was sagst Du dazu?
MC: Als ich hier in Menton das Restaurant eröffnet habe, war ich 29, also noch ziemlich jung. Ich wollte für meine Arbeit bekannt werden, und nicht für meine Herkunft. Ich habe viele Jahre lang keinerlei argentinische oder südamerikanische Elemente in meinen Gerichten realisiert. Ich will auch heute noch meine Küche vor allem mit den Produkten machen, die ich rund um das Restaurant finde. Natürlich habe ich meine geschmacklichen Erinnerungen – an die Assados von meinem Vater oder die phantastische Chimichurri-Sauce – aber diese Spuren sind heute in meiner Küche wirklich nur sehr subtil vorhanden.
JD: Hast Du ein anderes Verhältnis zu Produkten, die Säure bringen?
MC: Ja, aber das passt gut in die Gegend. Tatsächlich sind wir eine sehr mediterrane Küche. Wir benutzen zwar ab und zu etwas Sahne, kochen sie aber generell nicht, weil die Saucen dann zu schwer werden. Wir sind hier in einer Gegend, in der eigentlich immer Sommer ist, da muss man Sachen machen, die sehr frisch sind. Wir sind in Menton in der Stadt der Zitrusfrüchte. Wir haben phantastische Früchte, und ich benutze sie in vielen Gerichten – im Winter natürlich etwas weniger. Aber vom Frühjahr bis zum Herbst arbeite ich sehr viel mit der Fruchtsäure. Das bringt einfach immer diesen erfrischenden Touch im Mund.
Man muss sich aber auch noch die speziellen Zusammenhänge vorstellen. Als ich hier das Restaurant eröffnete, war es das erste Mal, dass ich an der Côte d’Azur war. Ich hatte hier noch nie gearbeitet. Als ich hier ankam, wusste ich überhaupt nicht, welcher Reichtum an Produkten hier zu finden ist. Ich habe dann Stück für Stück die Gegend entdeckt – den Reichtum der Berge und das Meer.
JD: Wie tief gehst Du in diesem Prozess? Gehst Du soweit wie die Skandinavier es tun? Suchst Du eine radikale Regionalität?
MC: Nein. Ich kam aus Paris und habe dort typisch pariserisch gearbeitet – also mit dem, was man uns von irgendwoher angeliefert hat… Eine Woche nachdem ich hier in Menton angekommen war, habe ich mir gesagt: Vergiss das alles. Ich habe in einem Umkreis von vielleicht sechs Kilometern absolut phantastische Produkte gefunden. Damit musste man arbeiten, damit wollte ich arbeiten.
JD: Es ist etwas merkwürdig mit dem Mirazur. In den Top 50 schien das Mirazur immer eher unspektakulär mitzulaufen, stieg dabei aber immer weiter im Ranking auf. Alle Welt redete vom nächsten großen Ding, und wer immer weiter nach vorne kam war Mauro Colagreco. Hast Du dafür eine Erklärung?
MC: Ja, wir sind einfach sehr natürlich. Ich habe alle Sachen für mich neu entdeckt, die Gamberoni aus San Remo, die Mini-Anchovis von sensationeller Qualität, ich habe so etwas vorher noch nie gesehen. Es war ein totales „Jungfrau-Erlebnis“ und ich habe eine mediterrane Küche entwickelt, die keinerlei Klischees verfolgte, weil ich keine hatte. Ich habe einfach eine völlig neue Sicht auf die Region und ihre Produkte entwickeln können. Wir haben an der Côte viele sehr gute Köche, aber meine Küche ist völlig anders. Die anderen Köche hier an der Côte d’Azur kommen von hier oder arbeiten schon sehr lange hier.
JD: Hattest Du die Möglichkeit, bei Jacques Maximin (Anm.: dem genialen Gemüsekoch) zu essen?
MC: Ja. Er war ein Genie und er ist immer noch ein Genie.
JD: Aber er hat es nie zu drei Sternen geschafft. Er ist in den Köpfen von allen Köchen, die je bei ihm gegessen haben, aber ist nie wirklich populär geworden
MC: Am besten war er zu seiner Zeit im Negresco. Aber er ist ein bisschen eine schwierige Persönlichkeit.
JD: Ich habe ihn zweimal getroffen, zum Beispiel in der Auberge de l’Ill zum 40-jährigen Drei-Sterne-Jubiläum. Ich ging zu ihm und sagt: „Oh, Monsieur Maximin, schön Sie zu treffen, schön, eine solche Legende der Kochkunst zu treffen.“ Er mochte das. Diese Formulierung gefiel ihm.
MC: (lacht sehr laut) Ja, so ist er, so sind manche Köche, besonders die besten und kreativsten.
JD: Was wirst Du in fünf oder zehn Jahren machen?
MC: In fünf Jahren werden wir ganz sicher damit weitermachen, was wir heute machen. Wir versuchen, unsere Arbeit mit Vergnügen zu machen und die kulinarischen Schätze dieser Region zu entdecken. In zehn Jahren wird man sehen. Ich habe sehr viel Spaß an meinen Gärten. Wenn ich morgens aufstehe, gehe ich zuerst in den Garten und arbeite dort. Ich habe dort einen Spezialisten für Permakultur. Der Kontakt zu ihm und zu seiner Arbeit hat bei mir viel verändert. Ich hoffe, dass ich in zehn Jahren sehr viel mehr Zeit im Garten verbringen werde.
JD: Und nicht im Fernsehen?
MC: Nein. Ich habe das versucht bei der italienischen Ausgabe von Top Chef. Aber ich glaube, dass ich dafür nicht wirklich geeignet bin. Ich würde aber andererseits auch nicht behaupten, dass ich mein ganzes Leben lang Koch sein werde. Man muss auch Gelegenheiten nutzen können – wenn man das wünscht.
JD: Vielen Dank, alles Gute und viel Erfolg in Singapur (Anm.: wenige Tage nach unserem Gespräch fuhr Mauro Colagreco nach Singapur und wurde dort zur neuen Nummer 1 der Welt)