Alexandre Gauthier ist mit seinem “La Grenouillère“ in La Madeleine-sous-Montreuil so etwas wie der beste Zwei Sterne-Koch der Welt. Aber das ist eine andere Geschichte. Im nahen Montreuil, also quasi oberhalb seines Gourmetrestaurants, betreibt er zwei weitere Restaurants, darunter das „L’Anecdote“ mit einem ungewöhnlichen Konzept. Gauthier lässt sich bei den Gerichten von der Arbeit seines Vaters (der ebenfalls lange Jahre einen Stern hatte) in den 70er und 80er Jahren inspirieren. Wohlgemerkt: er kocht sie nicht nach, sondern lässt sich eben von ihnen anregen, von den Zusammenstellungen, den Techniken oder dem Geschmack. Die aktuelle Karte ist von Gerichten inspiriert, die sein Vater am 15.3.1979 angeboten hat.
Das Restaurant gehört zum Great Western Hotel Montreuil, die Einrichtung hat einen Hauch von industrial Chic, wirkt aber in keiner Weise aufdringlich. Ich habe vor drei Jahren schon einmal über das „L’Anecdote“ geschrieben, bin jetzt aber noch einmal hingegangen, um speziell noch einmal über das gastronomische Format nachzudenken. Begriffe wie „Casual Fine Dining“ spielen ja in Frankreich kaum eine Rolle – auch wenn man im „L’Anecdote“ geneigt ist, wieder einmal über sie nachzudenken. Wichtiger ist hier, dass die Preise quasi auf dem gleichen Niveau wie bei den ganz normalen Restaurants liegen. Die Vorspeisen um die 15, die Hauptgerichte in den Zwanzigern. Es geht also keineswegs in Richtung von deutschen Neo-Brasserien o.ä., die ja über die Konzentration auf Fleisch meist auch sehr kostspielige Gerichte anbieten.
Hier zuerst eine kurze Darstellung der probierten Gerichte:
Ceviche de maquereaux (14 Euro)
Es gibt eine recht große Portion mit dickeren Stücken von roher Makrele inklusive der Haut. Dazu kommen u.a. eher dicke Halbscheiben von entkernten Gurken, marinierte Gurkenkugeln, Johannisbeeren, Nussstücke und Kerbel. Ein leicht rötlicher Sud wird angegossen, der geschmacklich im leicht süß-säuerlichen Spektrum liegt. Die Makrele ist von erstklassiger Qualität. Die Gurkenscheiben sind komplett roh belassen, sie sorgen für einen beträchtlichen Frischeeindruck. Dass Gericht insgesamt weicht deutlich von den mittlerweile weit verbreiteten Ceviche-Varianten ab, es schmeckt sehr präsent und direkt, dabei aber durchaus raffiniert
Calamars frits, sauce gribiche (14 Euro)
Hier geht der Bezug eindeutig in die Snack-Kultur, die hier im flämisch geprägten Teil von Frankreich eine bedeutende Rolle spielt und gespielt hat. Es gibt quasi nur eine Art stehende Tüte mit großen, mit Panko frittierten Calamar-Ringen und daneben ein Schälchen mit der Sauce Gribiche. Sie ist hier eher cremig gehalten, nicht übermäßig würzig und wirkt im Zusammenhang mit den frittierten Ringen vor allem süffig. Die Röstnoten der Calamars sind eher mild, hier geht es gleichermaßen um Textur wie um ein ausbalanciertes Aroma. Bei einseitigen Gerichten wie diesen ohne viel Variation besteht oft die Gefahr einer gewissen Penetranz oder Redundanz. Durch die milde Struktur lässt sich hier alles gut und problemlos essen, ohne dass es langweilig wird.
Lotte en barigoule (28 Euro)
Ein Meisterwerk dieser Küche, das geschmacklich in die Abteilung „Es geht vielleicht anders, aber nicht besser“ gehört. Es gibt zwei überraschend große und sehr sauber schmeckende, leicht fest gegarte Stücke Seeteufel von einem sehr guten Geschmack. Die Begleitung besteht aus Segmenten von Artischockenböden, Kirschtomaten, Spinat, kleinen Kartoffeln (als Gemüseteil) und zweierlei Speck: einmal sehr kross und reduziert, aber dabei nicht zu konzentriert (also zum Teil luftgetrocknet), einmal weich in Flüssigkeit gekocht (also wohl als Infusion in die Sauce). Das Bild ist perfekt und feinstens abgestimmt, obwohl es in keiner Weise millimetergenau abgewogen wirkt. Die Gemüse sind eher erwärmt als gegart (Anmerkung: demnächst mehr zu der 48/49° – Garung, über die man in Frankreich gerade häufiger nachdenkt).
Caille aux Langoustines (28 Euro)
Dieses Gericht wirkt am ehesten wie eine Adaption eines traditionellen Gerichtes der Spitzenküche. Die Wachtel wird im ganzen aber mit entbeinter und gefüllter Brust serviert. Auf der Wachtel liegt eine mittelgroße Langustine, die Sauce ist eine klassische Bisque auf Langustinenbasis, als Einlage gibt es eine gegrillte Tomate mit einem sehr guten Aroma. An der Seite wird ein Schälchen mit Fregola Sarda serviert, auf dem ebenfalls noch eine Langustine liegt. Der Sud von der Fregola-Zubereitung ist ebenfalls die Bisque. In den Proportionen geht es hier nicht unbedingt um Wachtel plus Langoustine, sondern eher um das Aroma der Langustinen-Bisque mit der Wachtel. Die Fregola bringen Frische und Textur. Der Geschmack der Wachtel ist mit der Spinat-Kartoffelfüllung sehr schön, einen Tick traditionell, aber dabei leicht und süffig. Die Sauce passt exzellent zur Wachtel.
Baba au Rhum, crème vanillée
Klassisch, üppig, mit noch einmal am Tisch angegossenem Rum Agricole sehr guter Qualität. Um einen besseren Akkord zu haben gibt es nicht ein Eis (das verlaufen könnte), sondern eine etwas stabilere Crème, die sich gut hält.
Aromatik
Bei Küchen dieser Art fällt oft sofort auf, dass man eigentlich nie Salz oder Pfeffer bemerkt und auch nicht die Wirkung von Garfonds oder ähnlichen Dingen. Alle Produkte schmecken klar und identisch und nicht nach mehr oder weniger intensiven Bearbeitungen. Die Küche wirkt auf diese Weise nicht nur transparent, sondern auch leicht und differenziert. Es ist, als ob ein aromatischer Schleier, der oft über vielen Küchen (egal ob gut oder schlecht) nicht vorhanden wäre. Speziell beim Barigoule zum Fisch zeigt sich, dass diese nicht irgendwie aromatisch homogenisierte Zubereitung, die als Backup nur eine leichte Nage hat, sehr gut funktioniert und dem Fisch erstaunlich viel Platz lässt.
Sensorische Struktur
Gauthier legt in dieser Küche keinen besonderen Wert auf die Inszenierung spezieller Texturen oder Temperaturen. Im wesentlichen wirken die Gerichte recht natürlich und in keiner Richtung forciert. Bei den Gurken zur Makrele sind die Proportionen allerdings kontraproduktiv. Selbst mit halb so dicken Scheiben müßte man noch mit einer unproduktiven Dominanz der rohen Scheiben gegenüber dem Fisch rechnen. Die Johannisbeeren, die schmalen Nussstückchen und der Sud dagegen bringen eine schöne Unterstützung/Erweiterung für die Makrele. – Bei den Langustinen zur Wachtel habe ich unterstellt, dass der direkte Akkord nicht das Ziel ist, sondern ein Geschmacksbild, bei dem Langustinen und Bisque zusammen den Akkord mit dem Fleisch ausmachen. Dennoch könnte man sich hier ein größeres Exemplar gut vorstellen, was aber den Teller schnell deutlich teurer machen würde. Große Langustinen sind auch hier an der Küste teuer.
Assoziativer Kontext
Mit dem Konzept, sich von Gerichten seines Vaters inspirieren zu lassen, scheint Gauthier mit einem entsprechenden assoziativen Kontext zu spielen, den vor allem Besucher, die schon seit vielen Jahren in der Spitzenküche essen, bemerken werden. In der Realität ist dieser Aspekt aber nicht so wichtig. Es geht eher um klassische Qualitäten als um explizit klassische Gerichte, eher darum, ein purifiziertes, klassisch inspiriertes Geschmacksbild zu realisieren. Das fällt auf und ist präsent, weil man eben nicht Modisches, sondern mit viel Übersicht Durchdachtes bekommt. Gauthier transportiert die Qualitäten durch die Zeit und ergänzt sie – ganz im klassischen Sinne – mit dem, was wir mittlerweile anders denken, also etwa Leichtigkeit. Die Gäste werden sich in dieser Küche sehr wohl fühlen, weil sie komplett wirkt, abgerundet, ohne Forciertheit, wohlschmeckend für alle Generationen und eben wirklich französisch-klassisch auf die Produkte bezogen und nicht nur behauptet. Die Calamars werden an die Imbißkultur erinnern, und dann aber auch daran, dass man selbst in diesem Sektor noch Optimierungen realisieren kann. Vielleicht könnte man an dieser Stelle aber auch noch etwas expressiver werden. Der Baba au Rhum ist dann wieder nicht in erster Linie Optimierung, sondern schon sehr stark in der Tradition verhaftet.
Stilistik
Der Stil dieser Küche, also eigentlich der Art und Weise, wie sich Gauthier mit den Gerichten befasst, ist im grunde das Beste im „L’Anecdote“. Wohlgemerkt: Gauthier ist ein Avantgarde-Koch mit einem außergewöhnlich klaren eigenen Stil, den ich aber ebenfalls schon einmal als im grunde komplett französisch bezeichnet habe (wobei dann viele, die so etwas von sich behaupten, nicht so französisch wären). Dass er so exzellent mit diesen Gerichten zurechtkommt, liegt an seiner vielfältigen Ausbildung und an seiner Sensibilität. Man merkt hier weit mehr als in irgendwelchen Zweitrestaurants bekannter Köche, dass die Qualität eines überragenden Koches sich auch in einfacheren Gerichten niederschlagen kann, wenn sein Können ein wirklich umfassendes ist. Die Klarheit und der unforcierte, fast elegante, immer differenhziert6e Wohlgeschmack dieser Küche ist ein großes Vergnügen auch für Gourmets.
Bewertung für die Lotte au barigoule (nach meinem Bonus-Malus-System)
Handwerk (maximal 8 Punkte, Abzüge von jeweils bis zu einem Punkt in vier Kategorien)
Abzüge: Produktqualität keine, Produktverarbeitung/Garung 3 Zehntel, Aromatisierung 3 Zehntel, sensorische Struktur 2 Zehntel.
Summe: 7,2 Punkte
Stilistik (Zuschlag von bis zu 2 Punkten in den Bereichen klassische Küche, Regionalküche, Kreative Küche, Länderküchen)
Zuschlag 1 Punkt für klassische Küche
Summe Alexandre Gauthier, Lotte au barigoule, L’Anecdote, Montreuil-sur-Mer: 8,2 Punkte