Alain Ducasse hat neulich in einem Interview darauf hingewiesen, dass er schon 1987 ein vegetarisches Menü angeboten hat, also exakt zu dem Zeitpunkt, an dem er in Monaco das „Louis XV“ übernommen hat. Er gehörte zu den ersten Köchen, die Gemüse sozusagen ernst nahmen und auch für die diversen Sorten dezidierte Kochtechniken und Gargrade entwickelten. Sein Reflex auf die Kochtechnik ist also nicht auf die Kerntemperaturen von Fleisch und Fisch beschränkt – auch wenn er nicht so weit gegangen ist, auch für Gemüse Kerntemperaturen zu entwickeln. Ganz allgemein war und ist Ducasse immer sehr nah am kulinarischen Puls der Zeit. Oft ist er sogar so nah, dass er der erste Spitzenkoch ist, der Trends der Gastronomie aufnimmt und sie mit seinen Fähigkeiten auf ein neues Niveau hebt. Insofern wundert es auch nicht, dass er in seinem Pariser Flaggschiff, dem „Plaza Athénée“ frühzeitig auf Bio und eine Art natürliche Küche umgestellt hat. Es ging ihm dabei nicht in erster Linie um Vegetarisches oder Veganes, sondern eher um eine „direktere“ Küche, in der die natürlichen Aromen wieder stärker zur Geltung kommen und nicht immer den oft umfangreichen, aber auch klischeehaften „Manipulationen“ der Spitzenküche ausgesetzt werden. Das Buch hat die Rezepte zum Inhalt, die im „Plaza Athénée“ zwischen 2016 und 2020 unter dem Konzeptnamen „Naturalité“ erarbeitet wurden. „Gemüse, Fisch und Cerealien“ sind die Grundlage dieses Programmes, das weitgehend von seinem Küchenchef Romain Meder und Patissière Jessica Préalpato bestimmt wurde.
Das Buch
Zuerst fragt man sich natürlich, warum Ducasse dieses Buch nicht im gleichen Design wie seine „Grand Livre de Cuisine“-Bände veröffentlicht hat. Ein Grund könnte darin liegen, dass man für dieses Thema ein anderes, mehr an Bio erinnerndes Papier genommen hat. Ansonsten aber ist der Aufbau des Bandes ganz ähnlich. Ein Rezept bekommt – bis auf wenige Ausnahmen – vier Seiten: links auf weiß nur der Titel, rechts das ganzseitige Foto, dann zwei Seiten mit der Rezeptur. Der Aufbau weist schon darauf hin, dass es hier nicht zwangsläufig um einfache Rezepturen geht. Wie oft bei Ducasse sieht es vielleicht auf den ersten Blick einfach aus, ist aber mit diversen Einzelzubereitungen meist sehr differenziert und im Aufbau eindeutig professionell. Dazu ein Beispiel. Ein scheinbar ganz einfaches Rezept wie „Melone, grüne Feige, frische Mandeln“ hat die Elemente: Essig von grünen Feigen und Melonenessig (beide als eine Art Grundzubereitung, die bei der Herstellung anderer Elemente Verwendung findet), dann ein „Condiment“ auf der Basis von dehydrierten Melonen und div. Zutaten, ein Holunder-Öl, eine „Garnitur“ aus verschiedenen Elementen von Feige, Melone und Holunder, ein „Holunderwein“, eine „Melonenbasis“ mit div. Zutaten (10), ein Jus (bei dem dann wieder die Melonenbasis eine Rolle spielt) und Gamberoni. Was dazu ebenfalls noch auffällt, ist die Mengenangabe: die Rezepte sind für 10 Personen bemessen.
Diese kleine Einführung in die Herstellungsabläufe der Rezepte klingt für zeitgenössischen Profi nicht unbedingt kompliziert, sondern nach aufwändiger, großer Küche, bei der eben alles und jedes speziell realisiert wird, bei der dann eben nicht „mit Wasser“ gekocht wird, sondern eine vielfältig verwobene Aromatisierung einer Rolle spielt. Wer immer so kocht, wird vielleicht nicht bemerken, dass sich diese Kochtechnik in niedergeschriebener Form oft in ziemlich umfangreichen Texten niederschlägt. Wer simplifizierte Rezepte ohne Raffinesse erwarten oder kennt, wird hier gegen eine Wand laufen, die nur schwierig zu überwinden ist. Das muss man wissen.
Ansonsten ist der Inhalt ein Fass ohne Boden und die Qualität und der Einfallsreichtum der Rezepte sehr hoch. Weil dieses Buch das Dokument der Arbeit in einem Spitzenrestaurant ist, haben natürlich auch fast alle Rezepte originelle Aspekte. Hier einige zufällig ausgewählte Rezepturen: „Ochsenherztomate mit Granatapfel und Rose“ (plus Hummer, Hummersauce, Tomatenöl, Nelkenöl, Salat, ein Granité von Tomatenbrot (!), usw. usf., ich werde keine weiteren Aufzählungen von Details mehr machen, sie sind immer da), „Quinoa aus dem Anjou, Wurzeln, wilde Pilze, gebratene Kumquats“, „Bohnen, Nüsse, Steinbutt“, „Kartoffeln und Meeresanemone“, „Kastaniengalette mit Seeteufelleber“, „Gratinierte Endivien mit Milch von fermentiertem Ziegenkäse und schwarzen Trüffeln“, “Schwarzer Rettich, Schalen-Bouillon, Algen und Austern“, „Weißer Spargel, Minze, Bergamotte, Buttermilch“. Die Liste ist unglaublich groß und vielfältig.
Man kann sich dann natürlich fragen, was in diesem Buch unter „Naturalité“ verstanden wird. Wir sind hier nicht in Deutschland, wo es um einen eher technisch verstandenen „Bio“-Begriff geht, dessen kulinarische Füllung in Rezepten oft eher bescheiden ausfällt. Bei Ducasse zeigt sich in diesem Buch erst einmal eine fast vollständige Abwendung von oft klischeehaft-automatischen Geschmacksbildern, die man in Frankreich immer noch sehr häufig findet. Dazu verzichtet er quasi vollständig auf Fonds und andere übliche Grundzubereitungen. Er weitet seine Produktpalette sehr deutlich aus, benutzt zwar noch die guten Meeresprodukte, kombiniert sie aber oft mit ungewöhnlichen Produkten aus dem Gemüse-etc-Sektor oder auch mit vielen rohen Kräutern und anderen Elementen. In diesem Buch führt das dazu, dass sich eine neue Vielfalt einstellt, die man nicht erreichen würde, wenn man den üblichen Produktkanon abarbeitet (wie das etwas Bernard Pacaud im „L’Ambroisie“ tut). Der Einfallsreichtum, der sich nicht zuletzt bei den vielen Details zeigt, ist dabei überwältigend. Hier lassen Köche (Ducasse ist ja oft vor allem das Aushängeschild für die Arbeit ganzer Armeen von Köchen) offensichtlich der Phantasie freien Lauf, um dann die Ideen zu beeindruckenden Rezepturen zu kondensieren. Man darf davon ausgehen, dass Ducasse bei seinen wichtigsten Mitarbeitern einen erheblichen kreativen Druck erzeugt.
Fazit
Das Buch ist überwältigend, vor allem dann, wenn man in die Details vordringt. Man könnte hier über einzelne Rezepte seitenlange Analysen schreiben und kann sich beim Studium der Rezepte (für die man in eine Art Flow kommen sollte, also die Zubereitung praktisch mitdenken sollte), in kürzesten Abständen immer wieder freuen. Profis und Privatköche, die wirklich weit entwickelt sind, werden von diesem Buch begeistert sein. Für sie ist es ein Muss. „Normalere“ Hobbyköche können sich vielleicht inspirieren lassen oder an Detailzubereitungen erfreuen. Wenn es ihnen gelingt, ein Rezept komplett und gut umzusetzen, hätten sie allerdings einen erheblichen Fortschritt zu verzeichnen….
Das Buch bekommt natürlich 3 grüne BBB, liegt aber in der Qualität unbedingt am oberen Rand dieser Kategorie.
Fotos © Ducasse Edition
Das erste Spitzenrestaurant, in dem wir ein regelmäßig angebotenes vegetarisches Menü auf der Karte gesehen haben, war — sehr früh (in den 80ern) — das Chancelier (im Hotel Negresco/Nice), wo damals Jacques Maximin (2 Sterne) kochte.
(Wir haben es deshalb zwei Tage später nochmals besucht.)