Nein, dies ist kein Jahresrückblick, dies sind Impressionen, die mir so durch den Kopf gehen, wenn ich an einige meiner Gastronomie-Besuche im Jahr 2020 zurückdenke. Vor-Corona, direkt nach Corona, in einem entspannten Sommer und bis zum letzten Tag vor dem neuerlichen Shutdown der Gastronomie. Als echter Gastronomiekritiker bin ich natürlich nicht nur in der Spitzenküche unterwegs, sondern treffe auf ganz unterschiedliche Szenarien, die mir dann aus verschiedenen Gründen länger in Erinnerung bleiben.
Die Gala der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zur Ehrung der „Lieblinge des Jahres“ im Ballsaal von Schloß Bensberg Ende Januar brachte mit fünf Preisträgern für fünf Gänge wie immer exzellente Leistungen – in diesem Jahr von Torsten Michel („Schwarzwaldstube“), Heiko Nieder („The Restaurant“, Dolder Grand), Jan-Philipp Berner („Söl’ring Hof“, in seiner Vertretung kochte als Executive Chef Johannes King), Song Lee („Nikkei Nine“) und Dennis Quetsch („Rutz“). Die vielleicht größte Überraschung war das exzellente Dessert von Marco Müllers Sous Chef Dennis Quetsch. Marco Müller hatte ich schon ein Jahr vorher in der Abteilung „Innovation“ geehrt. Beide vor dem Gewinn des dritten Sterns also….
Der „Grill Royal“ in Berlin ist schon eine ganz spezielle Adresse. Die Dichte an Prominenz an dem Biennale-Samstag war einfach massiv, und die Stimmung bizarr. Aus irgendwelchen Gründen essen fast alle Gäste als Vorspeise einen ganzen Salatkopf und danach einen Cut aus dem großen Fleischangebot. Ich habe diverse Sachen probiert. Der aus Belgien stammende Koch Roel Lintermans hat die Sache sehr gut im Griff und schafft den richtigen Mix aus populärem Essen und guter kulinarischer Qualität. Er war vorher übrigens ein klein wenig anders unterwegs, nämlich als Executive Chef für Pierre Gagnaire in London und Berlin.
Im „Brlo Brwhouse“ in Berlin hatte ich eigentlich mehr eine Szenekneipe mit Craft-Bier erwartet. Tatsächlich überraschte die Küche in dem spektakulär aus Containern zusammengeschraubten Bau mit der Kombination von einer sehr modernen bis avantgardistischen Küche und Bier. Die Arbeit von Ben Pommer macht Hoffnung für eine deutliche Verjüngung der Gourmetszene. – Der Besuch am 25. Februar im „Tulus Lotrek“ war schon ganz nah am ersten Shutdown war. Nach dem Essen sprach ich lange mit Max Strohe – nicht nur über das Essen und seinen Werdegang, sondern auch über das ganze soziale System einer neuen, großstädtischen Kreativ-Gastronomie. Da hat es dann auch nicht weiter verwundert, dass er wenig später mit seinen Corona-Aktionen zu bundesweiter Popularität gekommen ist. „Die sind eben so“, könnte man salopp sagen. Das hat der Szene so ganz nebenbei zu einem enorm guten Image verholfen. Hoffentlich kann er mit seinem Restaurant weitermachen.
Dass man im Bareiss in Baiersbronn eine außergewöhnlich aufmerksame und professionelle Gastronomie erlebt, ist bekannt. Dass das Frühstück wahrscheinlich das beste Hotelfrühstück im Lande ist, werden nur die Gäste wissen, die dort auch einmal über Nacht bleiben. Schon ganz knapp nach dem Ende des ersten Shutdowns hatten sie dort ein wunderbares Frühstückssystem mit Bedienung an verschiedenen Stationen erfunden, präzise, kulinarisch hochwertig und nicht einen Deut schwächer als vor der Krise. Das Egg Benedict mit Trüffeln war besonders herausragend. Auch Claus-Peter Lumpp war ebenso entspannt wie in Hochform. Die Zeit, in der man bei seinen Menüs immer etwas unter der Menge zu leiden hatte, ist endgültig vorbei. Lumpp ist deutlich souveräner als früher, was man eben sofort auch am Essen merkt. Eine ganz überraschende Vorspeise war eine Variation von Kichererbsen mit einer Platte von Granatapfelgelee und einem Gewürzgranité.
Ein paar Kilometer entfernt eröffnete nach dem ersten Shutdown das „Temporaire“, die vorübergehende Bleibe der Schwarzwaldstube unter Torsten Michel. Es wirkt gar nicht so provisorisch hier und es ist voll. Wie auch bei anderen Gourmetrestaurants der Oberklasse ergab sich nach der Wiedereröffnung ganz schnell eine riesige Nachfrage. Man war bald bis zum Ende des Jahres ausgebucht… Michel arbeitet konzentriert weiter an einer eigenen Sprache auf der Basis der ja schließlich zu einem wichtigen Teil von ihm selber erarbeiteten Qualitäten des Hauses.
Überzeugend bei diesem Besuch war zum Beispiel ein „Japanisches Rinderfilet ’Kobayashi‘ mit eingelegten Kohlrabi, Schmorsaft mit altem Reisessig und Aal“. Das Produkt ist klar im Mittelpunkt und bekommt ein faszinierendes aromatisches Spiel zur Begleitung. Bei Direktor Heiner Finkbeiner konnte ich einen Blick auf den geplanten Neubau werfen. Im Prinzip ähnelt er in der Grundstruktur den abgebrannten Gebäuden, ist aber optisch moderner und dezent adaptierend angelegt. Die Grundverteilung der Gastronomie-Räume wird bleiben.
Am Zürichsee gab es eine nicht erwartete Überraschung durch die Leistungen von Laurent Eperon im „Pavillon“ des Hotels Baur au Lac. Eperon, der schon lange im Haus arbeitet, hat sich eine beeindruckende Mischung aus perfektem Handwerk und individueller aromatischer Färbung erarbeitet. So schmeckt es nur hier. Zum Beispiel eine wundervolle Bouillabaisse. Die Weinbegleitung ist hier in Händen von Sommelier-Weltmeister Marc Almert, der auch den großen Weinhandel des Hauses begleitet.
Überraschungen gibt es auch immer wieder einmal außerhalb bekannter Trampelpfade. In Fulda, wo ich nach einem Restaurant suchte, weil ich noch nie über eine Küche in dieser Gegend geschrieben hatte, servierte mir nach einem recht angenehmen Menü ein Alleinkoch in einem echten Boutique-Restaurant ein bestechend gutes Dessert, das man ansonsten in einem absoluten Spitzenrestaurant lokalisieren könnte. Christian Steska hat im aromatischen Bereich ganz allgemein ein großes Talent. „Pekannuss-Oliven-Eis mit Apfelessig und Süßholz“ heißt das Dessert mit einer sensationellen Balance zwischen Aromen, Süße und Säure.
In einem ganz anderen Fach freut man sich über Restaurants wie das „Weinhaus Stern“ in Bürgstadt am Main, wo es eine „ganz normale“ Küche gibt, die aber so auf Vordermann gebracht ist, dass man sie mit Freude essen kann – auch weil die Betreiber des Restaurants mit Koch Klaus Markert einfach sehr cool und entspannt und zuverlässig und freundlich sind. Da ist kein Kalkül, da ist nur gute Gastronomie (und eine ziemlich lückenlose Weinkarte des Weingutes Fürst).
Was Andreas Döllerer im Gourmetbereich kann, ist weitgehend bekannt. Aber er hat noch andere Talente, die sehr für seine grundsolide Ausbildung und Bodenständigkeit stehen. Döllerer macht eine hervorragende Wirtshausküche, die übrigens demnächst in einem Buch im Brandstätter-Verlag gewürdigt werden wird. Ich habe Gourmet und Wirtshaus ausführlich studiert und kam dann an einen Punkt den ich in dieser Qualität und Intensität nie erwartet hatte: Wirtshausessen mit einer Weinbegleitung von Alex Koblinger. Viele reden davon, dass Regionalküche und gute Weine sehr gut zusammenpassen. Hier kann man den Beweis probieren, in einer ganz überraschenden Qualität.
Apropos Wein. In gleicher Sache kam ich in ein veganes Restaurant in Geisenheim, wo ich zuerst einmal gründlich irritiert war, weil ich mir den Zusammenhang zwischen veganen Klassikern aus der internationalen Küche und gutem Wein kaum vorstellen konnte. Aber – Koch Dirk Schritt vom Restaurant „22“ hat auch ein Programm mit anspruchsvolleren veganen Gerichten aus seinem eigenen Fundus und außerdem viel Spaß am Wein. Die Kombination von veganer Küche und Wein ist eine große Überraschung. Ohne die vielen Fette, die in anderen Küchen oft eine Rolle spielen, entfaltet sich der Wein ganz anders und viel besser. Von Dirk Schritt ist übrigens gerade ein Buch erschienen. Ich werde es demnächst besprechen.
Und noch einmal zum Wein. In der „Ente“ im Hotel Nassauer Hof in Wiesbaden saß ich einen Tag vor dem zweiten Shutdown beim Entenmenü und bekam zum Hauptgang, der Entenbrust, eine Kombination von Wein und Speisen, die ganz neue Erkenntnisse brachte. Gereifter Rheingau-Rotwein wie der 1989er Assmannshäuser Höllenberg, Spätburgunder Weißherbst Auslese trocken vom Kloster Eberbach zur Ente ist ein Hochgenuss der ganz anderen Art, mit Nuancen, die die „normalen“ Begleitungen einfach nicht hinbekommen. Michael Kammermeier ist ein ganz großer Spezialist, der in der Konzentration eine enorme Substanz gewonnen hat. Die junge Sommelière Elena Hart setzt die Tradition der guten Enten-Sommeliers souverän fort.
Last not least hatte ich viel Vergnügen beim Kaviargericht im „Jante“ in Hannover. Tony Hohlfeld hat keinerlei Scheu, sich auch mit Produkten zu beschäftigen, die sonst in der kreativen Küche nur noch eine deutlich geringere Rolle als früher spielen. Und er geht an der richtigen Stelle an das, was beim Essen am wirkungsvollsten ist: er „spielt“ mit den Erwartungen und Erfahrungen der Gäste, die beim Kaviar die ganze Breite zwischen Luxus und Purismus und Produktnähe usw. bedeutet. Und dann kommt er mit Sommerblütenfrischkäse unter dem Kaviar, einer Obstsojasauce mit Mandelöl obenauf und daneben einer Rauchschmalzwaffel, wohl wissend, dass eine Waffel so ziemlich das Letzte ist, an was man bei Kaviar denken würde. Und dann isst man und ist verblüfft, zu welcher Finesse sich hier alles zusammenfindet. In Port Culinaire ist er aus vielen guten Gründen Protagonist der aktuellen Folge unserer Avantgarde-Serie. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist er mein Koch des Jahres Inland.
Wenn wir demnächst die Kerzen anmachen: denken wir. an die Gastronomie, die im Sommer noch intensiv gemerkt hat, wie viele Leute sich nach gut Essen sehnen, die zum Jahresende hin ausgebucht war und nun zum zweiten Mal stillgelegt worden ist. Nutzen Sie die Lieferdienste – schon aus Gründen der Solidarität!