2020 – Das Jahr des Durchbruchs für eine neue, authentische Regionalküche?

Wenn man zum Jahresende und Jahresbeginn einmal auf die Programme der besten deutschen Restaurants blickt, kann man zu dem Schluss kommen, dass sich nach vielen Jahren diffuser Orientierung nun endlich der Durchbruch zu einer eigenständig-kreativen deutschen Küche anbahnt. Es ist vor allem die Generation der rund 25- bis 40-jährigen Köche, die sich nicht nur von den alten französischen Vorbildern emanzipiert hat, sondern auch auf Distanz zu dem ein oder anderen Vorbild im eigenen Land geht. Waren es vor zwei Jahren noch fast ausschließlich Berliner Restaurants plus ein paar weit verstreute Adressen im Lande, die mit ihrer neuen Sicht auf regionale Ressourcen Aufsehen erregten, hat sich das Interesse an den eigenen Traditionen und ihren Qualitäten mittlerweile weit über Deutschland verteilt. Und – es geht nicht mehr nur um die Spitzenküche, sondern auch um andere Formate bis hin zu kleinen Bistros oder Gastwirtschaften „auf dem platten Land“.

Als ich im Oktober 2007 den Begriff „Neue Deutsche Schule“ rund um Wissler, Elverfeld und Co. eingeführt habe, waren die Reaktionen in Deutschland und im Ausland sehr unterschiedlich. Im Ausland war man froh, dass es auch in Deutschland einmal neue Entwicklungen gab. Auf dem damals wichtigsten spanischen Kongress, „Lo mejor de la Gastronomia“ in San Sebastian kochten die besten deutschen Köche ein gemeinsames Menü für die Kollegen und die internationale Presse. Meine „12 Regeln der Neuen Deutschen Schule“ wurden im einflussreichsten spanischen Avantgarde-Magazin „Apicius“ veröffentlicht. In Deutschland aber wollte zum Beispiel der Gault Millau partout keine solche Schule erkennen – eine extrem kurzsichtige Reaktion und eine typisch deutsche Reaktion. Im Zuge der Entwicklung erzielten die deutschen Restaurants dann die besten internationalen Platzierungen, die sie bisher hatten – mit Joachim Wissler auf Platz 10 in den „50 Best“ als Höhepunkt. Hätten alle in Deutschland an einem Strick gezogen und den Nachwuchs in dieser Sparte zügig besser bewertet, wären uns sicher eine Reihe von eher orientierungslosen Jahren erspart geblieben, in denen wieder vor allem eine Art abstrakte Kochkunst praktiziert wurde, die mit den eigenen Traditionen und mit Authentizität nichts zu tun hat.

Vielleicht brauchte die deutsche Szene aber auch noch ein paar Jahre, um unter dem Eindruck der skandinavischen Küche und dem, was ich dann in Abstimmung mit René Redzepi „Nova Regio“-Küche genannt habe, zu eigenen Lösungen zu kommen. Eine Küche, die die eigenen Traditionen neu und komplexer denn je begreift und sie mit den Gedanken der Avantgarde verbindet, hat sich in den letzten Jahren weltweit durchgesetzt. Was im Moment bei uns passiert, ist eine sehr gute Sache, die aber nicht ohne Hindernisse ablaufen wird und vor dem Hintergrund stark beharrender Elemente beim Publikum wie in den Medien stattfindet. Dazu hier ein paar Punkte.

Der Hindernislauf „Neue Regionalküche“
Bei der aktuellen Entwicklung zugunsten einer authentischen Regionalküche reden wir von einem Phänomen, das vor allem „von oben“ kommt. Man kann nicht davon reden, dass sich traditionelle Restaurants in größerer Zahl zu neuen Ufern aufgemacht hätten. In der Regel handelt es sich um Änderungen von Konzepten und Neugründungen. Da, wo die Änderungen traditionelle Konzepte betreffen, gab und gibt es oft Widerstand vom traditionellen Publikum. Es ist nicht damit zu rechnen, dass das traditionelle Brauhauspublikum etc. jemals Interesse an einer Modernisierung „ihrer“ Gerichte hat. Insofern ist von dort keine Unterstützung, sondern eher Gegenwind zu erwarten.

Ein weiterer Gegenwind zeichnet sich bereits ab. Er kommt von den Medien, in denen anscheinend jetzt schon übersättigte Journalisten des üblichen, konservativen Lagers davon reden, in Berlin etwa könne man außer neuer Regionalküche schon gar nichts anderes mehr bekommen und ohne Klopse auf der Karte ginge es anscheinend nicht. Das passt ins Bild: von Seiten der Medien wird quasi jede kulinarische Veränderung von einem Misstrauen begleitet, das man nicht für möglich halten sollte. Viele Journalisten leben kulinarisch in einer Welt der Vergangenheit, irgendwo zwischen französischen Flohmärkten, Bistros und klassischer Küche und halten die deutsche Küche für nicht entwicklungsfähig. Der Horizont dieser Journalisten ist oft extrem begrenzt und an den eigenen Vorlieben/einer begrenzten kulinarischen Sozialisation orientiert (siehe dazu meinen Text in der Rubrik Gourmet Watch). Bei der Entwicklung einer aktualisierten Regionalküche ist nur mit begrenzter medialer Unterstützung zu rechnen.

Optimieren, interpretieren, neu denken
Es macht einen großen Unterschied, auf welche Weise man sich mit den regionalen Ressourcen befasst. Das Optimieren von traditionellen Gerichten der Regionalküche ist bisher leider noch viel zu wenig zu finden, obwohl dieser Ansatz sehr vielversprechend ist, weil sich in einer optimierten Schweinshaxe oder anderen Gerichten jeder Freund solcher Küche immer noch wiederfindet. Ein solcher Ansatz käme „von unten“, also daher, wo die Arbeit verstanden und geliebt werden kann. Optimierungen überzeugen, weil sie die Orientierung beibehalten und nicht irritieren. Für 2020 wäre sehr zu wünschen, dass sich in dieser Richtung mehr tut.

Die Interpretation von traditionellen Gerichten oder Geschmacksbildern ist das, was im Moment am häufigsten zu beobachten ist. Dabei bedienen sich viele Köche eher im weiteren Sinne traditioneller Vorbilder. Viele arbeiten mit regionalen Produkten und eher moderaten Anklängen an traditionelle Geschmacksbilder. Es entstehen Gerichte, die das Potential haben, zumindest bei Gourmets und eher jüngeren Gästen populär zu werden. Freunde der traditionellen Küche werden durch solche Küchen allerdings eher selten erreicht. In dieser Abteilung wäre zu wünschen, dass mit viel Feingefühl auch die echten Klassiker nicht vergessen werden. Die Balance zwischen modernistischer, „schicker“ Regionalküche und einer behutsamen Veränderung ist eine echte Gratwanderung.

Wer komplett neu denkt, also etwa im Stil der Berliner Avantgarde arbeitet, verlässt das, was ein ganz normaler Konsument traditioneller Küche liebt, in der Regel sehr schnell und vollständig. Er kann nicht mit dem Verständnis der Freunde traditioneller Küche rechnen und muss sich häufig sogar auf echte Anfeindungen einstellen. Wer ein Gericht nicht für „richtiges Essen“ hält, ist nur schwerlich vom Gegenteil zu überzeugen. Auch wenn in der Theorie die Avantgarde der Nova Regio-Küche sehr viele Punkte für sich hat, die auch Traditionalisten teilen (Stichwort: Bio, Nose to Tail, „Resteverwertung“, Ökologie), scheiden sich bei den konkreten Gerichten doch regelmäßig die Geister. Hier nach einer Lösung zu suchen, ist allerdings kaum möglich. Die Rolle der Avantgarde wird die einer echten Avantgarde bleiben, die neue Aspekte entdeckt und im günstigsten Falle dafür sorgt, dass auch konventionellere Küchen ganz langsam den ein oder anderen Aspekt ihrer Arbeit übernehmen. Ein Ragout von Wildpflanzenwurzeln etwa kann durchaus eine eher konventionelle Küche erreichen – wenn es denn so ähnlich/so gut wie Kohlrabi oder Schwarzwurzeln schmeckt.

Die Chancen für einen Durchbruch zu einer neuen, authentischen Regionalküche stehen gut, wenn sich denn die Köche und Gastronomen der Lage bewusst sind und ihre Chancen sensibel nutzen. Eine neue Regionalität kann auch auf einer breiteren Ebene Kult werden.

4 Gedanken zu „2020 – Das Jahr des Durchbruchs für eine neue, authentische Regionalküche?“

  1. Ich frage mich bis heute, wer außer Herrn Dollase den Kunstbegriff „Nova Regio“ jemals ernsthaft verwendet hat, wenn überhaupt… René Redzepi jedenfalls nicht.
    Aber ja, genau, eigentlich ist es nur Dollase zu verdanken, dass die deutschen Köche im Ausland mal kurz wahrgenommen wurden. Und Wisslers Platz 10 sowieso. Nennt man das Hybris?
    Nicht falsch verstehen, bitte: Im Text steht viel Wahres, und Herr Dollase ist ein kluger Kopf. Aber durch diese absurden Selbstbeweihräucherungen wird das leider ziemlich kaputt gemacht.

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    • Lieber Pietro,
      der Kunstbegriff Nova Regio – Küche wird recht häufig benutzt – zuletzt noch in der Süddeutschen Zeitung. Mich hat bei der Erfindung von begriffen aber noch nie interessiert, ob sie auch verwendet werden, sondern nur, ob sie gut und treffend sind, Das ist auch bei dem Begriff Nova Regio-Küche der Fall. Damals wurde alles als „Neue skandinavische Küche“ o.ä. bezeichnet, es ging aber mehr um das Prinzip von Redzepi und co., also darum, eine neue Sicht auf regionale Ressourcen mit avantgardistischem Denken zu verbinden. Da fand ich Nova Regio sehr praktisch.
      Natürlich bin ich nicht der einzige, der etwas für die deutschen Köche im Ausland getan hat – was für eine Behauptung… Im genanntenFall war es so, dass ich vor den deutschen Köchen zu einer Podiumsdiskussion nach San Sebastian eingeladen war. Später fragte mich Tenor Santos, welchen deutschen Koch er im nächsten Jahr einladen solle und ich habe Wissler vorgeschlagen..
      Dies Auswahl der Köche für Das Menü habe ich ebenfalls getroffen. Es gab damals sogar eine enorm intensive Zusammenarbeit. Wir haben uns bei Steinheuer an der Ahr getroffen und ich habe alle Gerichte, die die Köche dieses Teams vorgeschlagen hatten, probiert und mit den Köchen diskutiert um ein Maximum an Performance in San Sebastian zu erreichen. So geht das eben manchmal, und das sind nur die reinen Fakten.

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      • Lieber Herr Dollase, googelt man den Begriff, stößt man fast nur auf Beiträge von Ihnen 😉
        Und in der SZ, ja, da kam er neulich in der Kritik zum Pauly Saal vor – aber gefällt Ihnen das wirklich? Der Text ist ja im Fazit zutreffend, offenbart aber zugleich einen Mangel ein Fachkompetenz, der eigentlich wieder ein Fall für die Gourmet Watch wäre. Die Autorin haben Sie aber bereits für das Einsunternull geröstet – zu recht!
        (Zu den Fakten: Das liest sich doch schon differenzierter, als im Ausgangstext, wo nunmal raunend suggeriert wird, dass Wissler (und andere Deutsche) erst in Folge Ihrer Protegierung so weit gekommen seien…)

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